Page 29 - AIT0524_Leseprobe
P. 29
Caroline Spirig Entwurf Innenarchitektur • Interior design Raumreaktion, CH-Zürich
Foto: Valentina Verdesca, CH-Suhr 2002–2008 Studium Klinische Psychologie, Zürich 2010–2012 Basic Interior Standort • Location Kirchstraße 6, 79793 Wutöschingen Foto: Valentina Verdesca, CH-Suhr
Bauherr • Client Gemeinde Wutöschingen
2
Wohnfläche • Floor space 3112 m
Design Program, New York School of Interior Design 2015 Master Supervision/
Fotos • Photos Valentina Verdesca, CH-Suhr
Coaching in Unternehmen 2018 Co-Gründerin Raumreaktion, Zürich
Mehr Infos auf Seite • More infos on page 126
Lernen in relaxter Position ist erlaubt und erwünscht. • Learning in a relaxed position is allowed and encouraged. Jede(r) kann selbst entscheiden, wo und wie er/sie lernen will. • Everyone can choose where and how they learn.
von • by Caroline Spirig, CH-Zürich
E in Schulalltag, der darauf ausgelegt ist, Kindern und Jugendlichen acht Stunden am nenschule Wutöschingen – kurz ASW – veranschaulicht die architektonische Umsetzung
einer Schule, die sich für die oben beschriebenen Ziele seit nunmehr 12 Jahren vorbildlich
Tag Wissen durch Frontalunterricht zu vermitteln, ist größtenteils passé. Das zeigen
die Bildungsziele, die sich in den vergangenen 100 Jahren stark verändert haben. Die engagiert. Honoriert wurde dies bereits 2019 durch den von der Robert-Bosch-Stiftung
OECD-Studie aus dem Jahr 2003, die die „Schlüsselqualifikationen für ein erfolgreiches und der Heidehof-Stiftung gemeinsam ausgelobten Deutschen Schulpreis. Seit Januar
Leben und eine gut funktionierende Gesellschaft“ eruiert hat, untermauert vor allem 2021 können darüber hinaus 180 SchülerInnen der Oberstufe einen innovativen, knapp
zwei Qualifikationen, die von SchulabgängerInnen erwartet werden: „die Fähigkeit zum 2500 Quadratmeter großen, zweigeschossigen Neubau nutzen, denn die ASW bietet als
selbständigen Handeln“, sowie die Fähigkeit der „Kooperation in heterogenen Gruppen“. einzige Schule im Kreis Waldshut die neunjährige gymnasiale Allgemeinbildung an.
Erstere Fähigkeit bezieht sich darauf, selbstverantwortlich Entscheidungen übernehmen
und deren Konsequenzen antizipieren zu können. Die zweite zielt auf die Kompetenz, Der Oberstufenkosmos der Alemannenschule Wutöschingen
im Bewusstsein der Interdependenz – das heißt der wechselseitigen Abhängigkeit zweier
oder mehrerer Personen, Gruppen oder Systeme – ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Ihre Raumstruktur ist geprägt von einer durchdachten Aufteilung, die die verschiedenen
Zweifelsohne werden klassische Flurschulen, in denen sich Fach- und Klassenräume Phasen des Lernens unterstützt. Sie wurde auf der Basis der sogenannten KiK-Struktur
entlang von Fluren aneinanderreihen, der Förderung dieser neuen Bildungsziele nicht – der zeitlichen Rhythmisierung von Kontemplation, Input und Konsolidierung – ent-
gerecht. Es ist eine Tatsache, dass die starren Grundrisse die pädagogischen Formen, wickelt. Dazu wurden die Bedürfnisse der verschiedenen NutznießerInnen spezifisch
mit denen man heute vielerorts neu arbeiten möchte, nicht nur nicht fördern, sondern analysiert. Einem Sitzungsprotokoll vor Baubeginn, in dem die pädagogische Zielsetzung
schlichtweg behindern. der Schule Thema war, ist zu entnehmen: „Die LernpartnerInnen (sprich SchülerInnen)
sollen möglichst autonom ihre Ziele erreichen können, auch ohne LernbegleiterIn (sprich
Der Raum als dritter Pädagoge Lehrperson). LernbegleiterInnen nehmen sich oft zu wichtig und trauen den Lernpartne-
rInnen zu wenig zu.“ Diese Aussage soll veranschaulichen, was das Rückgrat der päd-
Dass ein Schulraum an sich nicht bloß Hülle, sondern im besten Fall Helfer und im agogischen Arbeit an dieser Schule ausmacht: Die LernbegleiterInnen haben nicht die
schlimmsten Fall Verhinderer sein kann, verbinden wir mit dem Begriff des „Raums als übergeordnete Aufgabe, „Wissende“ zu sein, sondern sie sollen die Kinder und Jugend-
drittem Pädagogen“, den wir aus der Reggio-Pädagogik kennen. Der italienische Erzie- lichen auf ihrem Weg zum Abitur coachen und begleiten. Sie sind verantwortlich für die
hungswissenschaftler Loris Malaguzzi entwickelte diese Pädagogik, der zufolge der Bereitstellung des Materials und der Lernumgebung, mit der die gesetzten Ziele erreicht
Mitschüler der erste, die Lehrperson der zweite und der Raum der dritte Pädagoge ist. werden können. Die menschliche Begleitung ist dabei unerlässlich. Diese manifestiert
So wichtig der Raum auch ist, er steht an dritter Stelle, da der menschliche Aspekt im sich unter anderem in Form von regelmäßigem Coaching, nämlich Sitzungen, in denen
schulischen Kontext zweifelsohne der Wichtigste ist. Spätestens seit Hatties Metastudie sowohl lernspezifische als auch persönliche Themen Platz finden.
„Visible learning“ (Hattie, J., 2009) ist bekannt, dass die positive Beziehung zwischen
Lehrperson und SchülerIn einen signifikant förderlichen Effekt auf die Lernleistung hat. Unsere Funktion als Innenarchitekturbüro
Dennoch: Dem Raum kann man nicht ausweichen. LehrerInnen und SchülerInnen fügen
sich darin ein und passen sich an. Weitergehende pädagogische Reformen wie der Wan- Als Innenarchitekturbüro machten wir es zu unserer Mission, architektonisch und
del zu einem Schulalltag, der das selbstorientierte Lernen in den Mittelpunkt stellt, das gestalterisch alles zu tun, um die Arbeitsweise der Schule zu unterstützen. Als interdis-
kollaborative Arbeiten fördert und die Phasen der Instruktion reduziert, sind in einer ziplinäres Team entwickelten wir – die Innenarchitektin Anika Müller, der Industrial
klassischen Flurschule jedoch nur mit viel Mühe oder kaum umzusetzen. Die Aleman- Designer Patrick Müller und ich als Psychologin – zusammen mit dem Architekten
AIT 5.2024 • 111