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Caroline Spirig                          Entwurf Innenarchitektur • Interior design Raumreaktion, CH-Zürich
            Foto: Valentina Verdesca, CH-Suhr  2002–2008 Studium Klinische Psychologie, Zürich 2010–2012 Basic Interior   Standort • Location Kirchstraße 6, 79793 Wutöschingen  Foto: Valentina Verdesca, CH-Suhr
                                                                          Bauherr • Client Gemeinde Wutöschingen
                                                                                             2
                                                                          Wohnfläche • Floor space 3112 m
                                 Design Program, New York School of Interior Design 2015 Master Supervision/
                                                                          Fotos • Photos Valentina Verdesca, CH-Suhr
                                 Coaching in Unternehmen 2018 Co-Gründerin Raumreaktion, Zürich
                                                                          Mehr Infos auf Seite • More infos on page 126



























             Lernen in relaxter Position ist erlaubt und erwünscht. • Learning in a relaxed position is allowed and encouraged.  Jede(r) kann selbst entscheiden, wo und wie er/sie lernen will. • Everyone can choose where and how they learn.



             von • by Caroline Spirig, CH-Zürich
             E  in Schulalltag, der darauf ausgelegt ist, Kindern und Jugendlichen acht Stunden am   nenschule Wutöschingen – kurz ASW – veranschaulicht die architektonische Umsetzung
                                                                          einer Schule, die sich für die oben beschriebenen Ziele seit nunmehr 12 Jahren vorbildlich
                Tag Wissen durch Frontalunterricht zu vermitteln, ist größtenteils passé. Das zeigen
             die Bildungsziele, die sich in den vergangenen 100 Jahren stark verändert haben. Die   engagiert. Honoriert wurde dies bereits 2019 durch den von der Robert-Bosch-Stiftung
             OECD-Studie aus dem Jahr 2003, die die „Schlüsselqualifikationen für ein erfolgreiches   und der Heidehof-Stiftung gemeinsam ausgelobten Deutschen Schulpreis. Seit Januar
             Leben und eine gut funktionierende Gesellschaft“ eruiert hat, untermauert vor allem   2021 können darüber hinaus 180 SchülerInnen der Oberstufe einen innovativen, knapp
             zwei Qualifikationen, die von SchulabgängerInnen erwartet werden: „die Fähigkeit zum   2500 Quadratmeter großen, zweigeschossigen Neubau nutzen, denn die ASW bietet als
             selbständigen Handeln“, sowie die Fähigkeit der „Kooperation in heterogenen Gruppen“.   einzige Schule im Kreis Waldshut die neunjährige gymnasiale Allgemeinbildung an.
             Erstere Fähigkeit bezieht sich darauf, selbstverantwortlich Entscheidungen übernehmen
             und deren Konsequenzen antizipieren zu können. Die zweite zielt auf die Kompetenz,  Der Oberstufenkosmos der Alemannenschule Wutöschingen
             im Bewusstsein der Interdependenz – das heißt der wechselseitigen Abhängigkeit zweier
             oder mehrerer Personen, Gruppen oder Systeme – ein gemeinsames Ziel zu verfolgen.   Ihre Raumstruktur ist geprägt von einer durchdachten Aufteilung, die die verschiedenen
             Zweifelsohne werden klassische Flurschulen, in denen sich Fach- und Klassenräume   Phasen des Lernens unterstützt. Sie wurde auf der Basis der sogenannten KiK-Struktur
             entlang von Fluren aneinanderreihen, der Förderung dieser neuen Bildungsziele nicht   – der zeitlichen Rhythmisierung von Kontemplation, Input und Konsolidierung – ent-
             gerecht. Es ist eine Tatsache, dass die starren Grundrisse die pädagogischen Formen,   wickelt. Dazu wurden die Bedürfnisse der verschiedenen NutznießerInnen spezifisch
             mit denen man heute vielerorts neu arbeiten möchte, nicht nur nicht fördern, sondern   analysiert. Einem Sitzungsprotokoll vor Baubeginn, in dem die pädagogische Zielsetzung
             schlichtweg behindern.                                       der Schule Thema war, ist zu entnehmen: „Die LernpartnerInnen (sprich SchülerInnen)
                                                                          sollen möglichst autonom ihre Ziele erreichen können, auch ohne LernbegleiterIn (sprich
             Der Raum als dritter Pädagoge                                Lehrperson). LernbegleiterInnen nehmen sich oft zu wichtig und trauen den Lernpartne-
                                                                          rInnen zu wenig zu.“ Diese Aussage soll veranschaulichen, was das Rückgrat der päd-
             Dass ein Schulraum an sich nicht bloß Hülle, sondern im besten Fall Helfer und im   agogischen Arbeit an dieser Schule ausmacht: Die LernbegleiterInnen haben nicht die
             schlimmsten Fall Verhinderer sein kann, verbinden wir mit dem Begriff des „Raums als   übergeordnete Aufgabe, „Wissende“ zu sein, sondern sie sollen die Kinder und Jugend-
             drittem Pädagogen“, den wir aus der Reggio-Pädagogik kennen. Der italienische Erzie-  lichen auf ihrem Weg zum Abitur coachen und begleiten. Sie sind verantwortlich für die
             hungswissenschaftler Loris Malaguzzi entwickelte diese Pädagogik, der zufolge der   Bereitstellung des Materials und der Lernumgebung, mit der die gesetzten Ziele erreicht
             Mitschüler der erste, die Lehrperson der zweite und der Raum der dritte Pädagoge ist.   werden können. Die menschliche Begleitung ist dabei unerlässlich. Diese manifestiert
             So wichtig der Raum auch ist, er steht an dritter Stelle, da der menschliche Aspekt im   sich unter anderem in Form von regelmäßigem Coaching, nämlich Sitzungen, in denen
             schulischen Kontext zweifelsohne der Wichtigste ist. Spätestens seit Hatties Metastudie   sowohl lernspezifische als auch persönliche Themen Platz finden.
             „Visible learning“ (Hattie, J., 2009) ist bekannt, dass die positive Beziehung zwischen
             Lehrperson und SchülerIn einen signifikant förderlichen Effekt auf die Lernleistung hat.  Unsere Funktion als Innenarchitekturbüro
             Dennoch: Dem Raum kann man nicht ausweichen. LehrerInnen und SchülerInnen fügen
             sich darin ein und passen sich an. Weitergehende pädagogische Reformen wie der Wan-  Als Innenarchitekturbüro machten wir es zu unserer Mission, architektonisch und
             del zu einem Schulalltag, der das selbstorientierte Lernen in den Mittelpunkt stellt, das   gestalterisch alles zu tun, um die Arbeitsweise der Schule zu unterstützen. Als interdis-
             kollaborative Arbeiten fördert und die Phasen der Instruktion reduziert, sind in einer   ziplinäres Team entwickelten wir – die Innenarchitektin Anika Müller, der Industrial
             klassischen Flurschule jedoch nur mit viel Mühe oder kaum umzusetzen. Die Aleman-  Designer Patrick Müller und ich als Psychologin – zusammen mit dem Architekten

                                                                                                                           AIT 5.2024  •  111
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