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Entwurf • Design Bassenge, Puhan-Schulz und Schreck, Berlin
Schulträger • Client 1966: Osterburken; seit 1977: Neckar-Odenwald-Kreis
Standort • Location Hemsbacher Straße 24, Osterburken
Einweihung Schulbau • Opening school building Mai 1972
Schulkonzept • Schulkonzept gebundener Ganztag, ursprünglich
Gymnasium mit Realschulzug für 800 Schüler
Sonnengelbe Fassaden und Sheds – hier ein Klassenraum – ... • Sunny yellow façades and shed roofs … ... verleihen der Schule ihr markantes Erscheinungsbild. • … give the school its striking appearance.
benbetreuung, Förderprogrammen und Rückzugsmöglichkeiten bot. Dr. Elmar Weiß, treffen sich alle – Schüler und Lehrer. Lange vor der heute inflationär genutzten Bezeich-
Lehrer am Progymnasium, wurde erster Schulleiter des GTO und lenkte dessen Ge- nung „Marktplatz“ wurde diese Idee hier umgesetzt. Von der Reling im Obergeschoss
schicke 30 Jahre lang. Der weitsichtige Rektor, an den heute eine Gedenktafel am Ein- hatten alle alles im Blick. Die Aula war und ist Aufenthaltsraum, Veranstaltungs- und
gang erinnert, erkannte, dass die Ganztagspädagogik eine entsprechende Architektur Pausenzone, Verkehrsfläche und Luftraum. Der offene Geist des Schulkonzepts und sei-
erforderte, und bestimmte das Konzept von Anfang an mit. Den bundesweit ausgelob- ner Architektur manifestiert sich hier am augenscheinlichsten. Die Sitzstufen vor der
ten Wettbewerb konnte im September 1967 die Berliner Architektengruppe Bassenge, Bühne der Aula sind immer gut besetzt. Offen und mit Blick über dieses Forum führen
Puhan-Schulz und Schreck für sich entscheiden. Anfängliche Akzeptanzprobleme in der beiderseits massive Freitreppen ins Obergeschoss. In den Nischen unter diesen Treppen
Bevölkerung hinsichtlich des neuen Konzepts einer gebundenen Ganztagsbetreuung, nisten sich Peergroups in den Pausen ein. Die über dem gesamten Baukörper liegenden
sprich eines verbindlichen Schulbesuchs an drei Nachmittagen pro Woche, wichen bald Sheddächer machen die Schule taghell. Zwischen der Eingangsebene und dem Oberge-
einer hohen Nachfrage und Identifikation. 1980 zählte die Schule 1400 anstelle der ein- schoss mit den Klassen- und Fachräumen entwickeln sich im Split-Level rund um die
gangs vorgesehenen 800 Schüler – das Konzept wurde förmlich von seinem eigenen Er- Aula vielfältige Bereiche, welche über Treppen erschlossen werden: das Glashaus, die
folg überrannt. In der Folge musste sich das GTO mit Überbelegung, Fragen der Träger- Schülermitverwaltung, das Lehrerzimmer, das transparente Sekretariat, die an die Aula
schaft und Finanzierung, Kapazitätsproblemen, notwendigen Zubauten, Lehrermangel, angegliederte, explizit öffentliche Bibliothek, die etwas tiefer liegende Mensa, die Gar-
Änderungen in der Bildungspolitik und dem Ende des Bildungsbooms – bereits ab Mitte deroben. Alles einsehbar, offen und in psychologischer Hinsicht schwellenlos – aus heu-
der 1970er-Jahre –, auseinandersetzen. Der ans Gymnasium 1971 angegliederte Real- tiger Sicht aber alles andere als barrierefrei. Die Bibliothek ist – als Einladung zum Lesen
schulzug und die sinnvolle Orientierungsstufe für die Klassen 5 und 6, die jedem ein- – nicht irgendwo, sondern zentral bestens positioniert. Eine Wendeltreppe als Shortcut
zelnen Schüler die Gelegenheit bot, zwischen Abitur und Mittlerer Reife abzuwägen, führt von der Klassenraumebene im Obergeschoss direkt dorthin.
wurden von einem Kultusministerium unter neuer Besetzung gekippt und die Trennung
von Gymnasium und Realschule verfügt. 1981 erhielt die Realschule ein eigenes Ge- Klare Struktur und Farbgebung
bäude in Fertigteilbauweise und in Trägerschaft der Stadt. Ungeachtet all dieser bil-
dungspolitischen, finanziellen und organisatorischen Turbulenzen offerierte das Ganz- Trotz seiner Größe ist das GTO ein Exempel der intuitiven Orientierung dank seiner kla-
tagsgymnasium Osterburken aus meiner Schülersicht stets einen äußerst inspirieren- ren Organisation. Eine plakative, farbenfrohe Signaletik dient darüber hinaus als Ord-
den, Lust auf Lernen und Schule machenden architektonischen Rahmen – einen Rah- nungsprinzip. Das Osterburkener Ganztagsgymnasium gleicht einer kleinen, abwechs-
men voller Angebote, Möglichkeiten und Spielräume. lungsreichen Stadt, die neben dem Lernen bespielt wird mit vielfältigen Aktivtäten in
Form von AGs, dem Schulorchester, dem Chor, Theaterangeboten und sportlichen Ak-
Was macht diese Schule aus? – Hugo-Häring-Preis 1972 tivitäten. Dazu gehören der auch öffentlich genutzte Schwimm- und Sporttrakt ganz
oben, die Hörsäle für Physik, Chemie und Biologie und die taghellen Labore sowie der
1972, im Jahr seiner Einweihung, wurde das GTO mit dem Hugo-Häring-Preis, Baden- Freizeitraum mit dem Pausen-Bäcker. Alles kompakt an einem Ort. Analogien zum
Württembergs Architekturpreis für vorbildliche Bauwerke, ausgezeichnet. Von der ge- Schiffsbau sind deutlich ablesbar – die weiße Hülle, die Fensterbänder, die Bullaugen
genüberliegenden Seite der Stadt, von der Autobahn kommend, wirkt die enorme Bau- und die U-Boot-Tür am einstigen Raum des Schulpsychologen, die verschiedenen
masse neben Einfamilienhäusern wie ein „weißer Riese“. Der aus Stahlbeton und Stahl Decks, sprich Ebenen, der Kamin, die Relings, die Nottreppen auf den Dächern ... Cha-
realisierte Baukörper entspricht von Weitem den zeittypischen Großformen der 1960er- rakteristisch für das GTO ist seine klare Farbgebung in Primärfarben: Gelb für die kon-
und 1970er-Jahre. Von Nahem, direkt vor Ort, entpuppt sich das zuoberst am Hang plat- struktiven Stahlträger, die Sheds, die Fensterbänder, Außentüren, Rot für die Innentü-
zierte Ensemble als gestaffelte Abfolge aus Sportplatz, Schwimm- und Sporthalle sowie ren, Technik, Geländer und Schiebegitter der Bibliothek, Blau für die Markisen. Sicher
terrassiertem Hauptgebäude samt ehemaliger Hausmeisterwohnung. Die sozialpädago- trägt die Mischung aus massiver Betonplastik sowie Transparenz und Offenheit dazu
gische Idee des Miteinanders im Ganztagsbetrieb gossen die Architekten architektonisch bei, dass man sich am GTO „gut aufgehoben und zuhause“ fühlt. Modellprojekte haben
in Form. Herzstück der Schule ist die äußerst großzügige, lichtdurchflutete Aula. Hier jedoch die Crux und auch das Privileg, auch Versuchsräume zu sein. Und getestet
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