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WOHNEN • LIVING
STIPENDIATENWOHNHAUS
IN CASTASEGNA
Entwurf • Design Armando Ruinelli, CH-Soglio
Direkt an der schweizerisch-italienischen Grenze, tief im malerischen
Bergell-Tal und umgeben von ausufernden Kastanienhainen liegt das
verschlafene Bergdorf Castasegna. Nicht unbedingt ein Ort, an dem
man eine Fülle von aufregenden Bauwerken erwarten würde. Weit
gefehlt, denn das neueste Gebäude von Armando Ruinelli reiht sich
hier nahtlos in eine architektonisch prominente Nachbarschaft ein.
von • by Jan Neflin
W enn man den Architekten Armando Ruinelli über seine Heimat sprechen hört,
dann beschleicht einen das Gefühl, dass die Uhren in dieser von hohen Bergen
eingefassten Tallandschaft zwischen Italien und der Schweiz wirklich ein wenig langsa-
mer zu ticken scheinen. Geradezu beeindruckend ist die Ruhe und Gelassenheit, mit der
Ruinelli, der seit 1982 ein eigenes Büro in seinem Geburtsort Soglio betreibt, von seinen
Bauwerken, zukünftigen Projekten oder seinen Ideen für die Zukunft des Tals erzählt.
Eine Ruhe und Gelassenheit, die nicht nur die umgebende Idylle widerspiegelt, sondern
auch in der schlichten und unaufgeregten Architektursprache Ruinellis – der hauptsäch-
lich im Bergell baut – zu erkennen ist. Auch sein neuestes Bauwerk, das in Castasegna,
nur wenige Kilometer von Soglio entfernt, realisiert wurde, überzeugt durch diese beru-
higte Herangehensweise. Wobei die direkte Umgebung des Gebäudes durchaus aufse-
henerregend ist: Neben der Villa Garbald, einem Gottfried-Semper-Bau von 1862 (siehe
AIT 10.2019), befindet sich auch ein 2004 eröffneter Erweiterungsbau – der sogenannte
Roccolo-Turm von Miller & Maranta – in der direkten Nachbarschaft des Gebäudes. Der
Neubau Ruinellis, als Ergänzung dieses Komplexes konzipiert, soll zusätzlich zu dessen
Funktion als Seminarort eine Rückzugsmöglichkeit für Einzelpersonen bieten. Seine Ku-
batur geht dabei auf ein ehemaliges Kastaniendörrhaus zurück, das zuvor an derselben
Stelle stand. So fügt sich das Gebäude, das mit einem rauen Außenputz versehen ist,
behutsam in die traditionelle Dorfstruktur und die umgebende Natur ein. Und auch die
Gestaltung des Innenraums setzt sich auf einer zeitgenössischen Ebene mit der Tradition
auseinander: Aufwendig gefertigte Stampfbetonwände geben den Räumen ihren rusti-
kalen Charme, ein weißlicher Mörtelboden erhellt das Erdgeschoss, und die Möbel,
Türen, Fensterrahmen und Verkleidungen aus Kastanienholz verleihen dem Ganzen die
nötige Wärme. Gerade weil die Einteilung und Ausstattung der Räume dabei stets auf
das Wesentliche begrenzt bleibt, vermittelt der Innenraum genau dieses Gefühl einer
entschleunigten Sorgfalt, die auch der Architekt in seinen Erzählungen anklingen lässt.
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