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SERIEN FRAU ARCHITEKT  • MS. ARCHITECT

















               Foto: Bundesarchiv / Digitales Bildarchiv









               Neubrandenburg entstand nach ihrem Plan • Neubrandenburg was developed according to her plan.






                      „Meine Architekturhaltung war die,
                  mit einer neuen Architektur einem neuen

                       Deutschland Ausdruck zu geben.“
                                                                            Foto: Frau von heute, 1961, Nr. 10
                                  Iris Dullin-Grund






                                                                             Dullin-Grund auf dem Titel der „Frau von heute“, 1961 • Dullin-Grund on the cover of „Frau von heute“, 1961


               fassaden verkleidete Stahlskelett konstruktion bot auf 16 Etagen Räume für Freizeit -  der im Zweiten Weltkrieg stark zerstörten Innenstadt Neubrandenburgs hatte schon
               gestaltung der verschiedensten Rich tungen. Neben dem 90 Me ter hohen Turm der im  1952 begonnen. Mit dem von Dullin-Grund aufgestellten Ge neralbebauungsplan von
               13. Jahrhundert errichteten Marienkirche dominierte er als Zeichen der neuen Zeit das  1970 begann eine zweite Phase, die auf eine Verdoppelung der Einwohnerzahl der
               Stadt zentrum. Iris Dullin-Grund verstand ihren Entwurf als bewusste Abkehr von den  Stadt bis 1990 hinauslief. Die auf industrielle Vorfertigung und große Serien ausgerich-
               konservativen Entwurfsmustern des auf sowjetischen Druck zustande gekommenen  tete Bauweise (Großplattenbausystem  WBS 70) forderte dabei ihren ästhe tischen
               Stils der „Nationalen Tradition“, der in den 1950er-Jahren die ostdeutsche Architektur  Tribut.  Um auch unter den Bedingungen der Massenproduktion von Woh nun gen die
               dominierte: „Meine Architekturhaltung“ war die, mit einer „neue(n) Architektur (...)  bestmögliche Bildung eines „Zuhauses“ und eines entsprechenden „Heimat ge fühls“ zu
               einem neuen Deutschland mit den humanistischen Ideen eines sozialistischen Staates  erreichen, versah sie den Plan mit „Fünf Grundsätzen“.  „Orientierung“ war ihr dabei
               Ausdruck [zu] geben“. Sozialismus bedeutete für sie: „möglichst viel Glück für mög-  ein Leitmotiv: Erstens sollte der historische Kern Neubrandenburgs „die Mitte der
               lichst viele Men schen“. Sie wollte eine „bessere Welt aufbauen helfen“. Maßgeblich  wachsenden Stadt bleiben“, zweitens sollen sich die „neuen Wohngebiete (...) auf den
               war für sie dafür, ein „menschengerechtes Bauen“ mit dem Ziel der Begegnung der  rundum gelegenen Hochflächen (...) ausbreiten“, denn „dort ist die Luft gesünder“ und
               Bürger untereinander und deren Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.    überdies sei die „schöne Landschaft (...) auch aus den Fenstern der Wohnungen noch
                                                                             weitreichend überschaubar“. Drittens würden die „natürlichen Hänge und Täler“ die
               Stadtarchitektin von Neubrandenburg                           unge künstelten „Zäsuren zwischen den neuen Wohngebieten“ bilden und als Nah -
                                                                             erho lungs gebiete geeignet sein,  viertens sollten das „Zentrum“ der Stadt und die
               Ihre „Idee war, ein Gebäude-Ensemble entstehen zu lassen, das übersichtlich und ein-  „Arbeits stätten“ fußläufig in einer Viertelstunde zu erreichen sein, fünftens sollte die
               ladend sein soll[te]“. Sinnbildlich steht dafür die großflächige Verglasung der Südseite  „Struktur der Stadt“ klar erkennbar und „erlebbar“ sein. Für Dullin-Grund verkörper-
               des Gebäudes mit Foyer und Ausstellungshalle. Das Haus der Kultur und Bildung sollte  ten die „Fünf Grund sätze“ den Gemeinschaftsgedanken in Bezug auf Wohnen und
               mit einem für  vielfältige Bedürfnisse geeignetem Raumprogramm mit  Theater,  Arbeiten. Dazu gehörte für sie auch, der Vereinsamung älterer Bürger entgegenzuwir-
               Konzertsaal, Cafés, Bibliotheken, Garderoben und Clubräumen nicht nur ein gemein-  ken. Altengerechtes Wohnen sah sie als Zeichen „natürlicher Solidarität“ innerhalb
               samer, allen zu gäng licher Ort für den „Kulturgenuss“, sondern auch für die selbsttätige  eines gelingenden Stadt ge schehens. Das sei keineswegs „karitatives Pflichtgefühl“,
               „schöpferische kul tu relle Betätigung“ sein. Damit  war die Absicht  verbunden, der  sondern  vielmehr der „Ach tung (...) einer Lebensleistung“ geschuldet. Ihr General -
               sozialistischen Idee, „al len Menschen den ganzen Reichtum der Kultur zu erschließen  bebauungsplan von Neubran den burg hatte denn auch ein kein geringeres Ziel, als ein
               und allen Menschen jede Möglichkeit der Bildung (...) zu bieten“, eine „architektoni-  „allseitig gut gemachtes Bauen“. Die Sport- und Festhalle in Lychen (1995), eine Wohn-
               sche Form  zu geben“.  Zu DDR-Zeiten  wurde das Haus  von mehr als 50 Arbeits -  und Arbeitsstätte in Berlin-Alt-Stralau (1998) und der Umbau einer ehemaligen LPG auf
               gemeinschaften genutzt, für die die Turm räume zur Verfügung standen. Die nach der  der Domäne Neu Garz im Müritz-Seen park zu einem Hotel (1999) sind Werke der jün-
               Wende vollzogenen Eigentümerwechsel und die damit verbundenen Sanierungen und  geren Zeit. Von 1999 bis 2008 betrieb sie ein zweites Büro an der Côte d’Azur. Heute
               Umbauten haben von der ursprünglichen Idee wenig übrig gelassen. Der Neuaufbau  lebt und arbeitet Iris Dullin-Grund in Glienicke bei Berlin.


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