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Hajo Eickhoff                            Entwurf • Design blocher partners, Stuttgart  (A. Kreutz, J. Gaiser →)
                                                                              Bauherr • Client AOK Baden-Württemberg
                                                                              Standort • Location Hermann-Hagenmeyer-Straße 1, 71636 Ludwigsburg
                                     1971–1982 Studium der Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte in Frei-  Nutzfläche • Floor space 1.473 m 2
                Foto: Hajo Eickhoff  burg, Aachen, Berlin 1989 Promotion: Die Geschichte und Theorie des Sit-  Fotos • Photos Joachim Grothus, Herford
                                     zens heute Kulturhistoriker, Konzeptentwickler/Berater für Unternehmen
                                                                              Mehr Infos auf Seite • More infos on page 182



                Brettern schützen. Das Stück Stoff ist direkt mit dem Büro verbunden, denn sein Name
                burra wird bald auf das zum Tisch gewandelte Gestell übertragen, auf dem der Stoff liegt,
                und später vom Tisch auf den Raum, in dem der Tisch mit dem Stoff steht. Der Name
                wandelte sich vom Tuch (burra) zum Tisch (bureau) und vom Tisch zum Raum (Büro).
                Die Geschichte von einem Stück Tuch zu einem ausgereiften modernen Büro haben Jan
                Teunen und ich im Buch „Burra“, einer Geschichte und Theorie des Büros, halb reali-
                stisch, halb fiktiv erzählt. Wir haben die Geschichte anhand von Persönlichkeiten erzählt,
                die sich um die Entwicklung des Büros verdient gemacht haben. Was man ihre Verdien-
                ste nennen kann, ergibt das, was gut eingerichtete und gut geführte moderne Büros aus-
                macht. So hat Hildegard von Bingen schon im 12. Jahrhundert die Askese gemildert, Spei-
                sebestimmungen gelockert, lange Gottesdienste verkürzt und alle Räume ihres Klosters
                mit fließendem Wasser ausstatten lassen, weil sie wusste, dass Menschen sich wohlfüh-
                len müssen, wenn sie ihre Arbeit gut verrichten sollen. Nonnen und Mönche haben ihre
                Fähigkeiten zum Teamwork erkannt, Benedikt von Nursia steuerte ein Regelwerk bei, das
                in Teilen noch aktuell ist, und Fürst Metternich, Michael Thonet und der österreichische
                Kaiser Franz I. haben im Teamwork den ersten Massenstuhl realisiert. Klöster sind Vor-
                bilder für Büros. Weil sich ihre Bedeutung für Kultur und Gesellschaft strukturell gleicht.
                Nonnen und Mönche betreiben Seelsorge und bewahren die Kulturgüter der Antike. Im
                gemeinschaftlichen Leben der Vita communis, der rationalen Lebensweise, der diszipli-
                nierten Verwaltungsarbeit und der moralischen Gesinnung durch das Engagement für Ge-
                sellschaft, Natur und Mensch übernehmen Klöster gesellschaftliche Verantwortung, die
                sie zum Vorbild für die moderne, bürgerliche Welt machen.
                                                                              Offene Kreativzonen bedürfen einer besonderen Akustik. • Open creative zones need special acoustics.
                Die Berufung des Büros bis zur Digitalisierung

                Büros sind Orte oder Ideen des Versammelns. Sie versammeln Menschen und Medien.  puter, Faxgeräte, Mobiltelefone, Kopierer und das Internet ziehen ins Büro ein, was auch
                Das, worum sie versammeln, ist der Tisch, der als burra beginnt. Er bildet die kommu-  ein Arbeiten in engen und informellen Räumen erlaubt. Ihr Potenzial liegt im Speicher-
                nizierende Mitte und wird mit dem Stuhl zu einer hocheffizienten Arbeitseinheit. Der  vermögen, in der Verkleinerung von Arbeitsmitteln, in der rigorosen Beschleunigung und
                Tisch ist die Mitte der ordnenden, verwaltenden und speichernden Tätigkeit und die  Vereinfachung der Kommunikation sowie der potenziellen Vernetzung aller Computer
                Mitte von Büro und Unternehmen. Er ist die fruchtbare Ebene und der moderne Acker.  weltweit. Mittlerweile passt die gesamte Büroausrüstung in ein Smartphone. Erforderli-
                Fragen nach dem richtigen Büro sind sachlicher, ästhetischer, organisatorischer und per-  che Daten lassen sich per Mail und Internet abrufen und mit den Neuen Medien gibt es
                soneller Art. Wie sind die Räume strukturiert und wie eingerichtet, welche Werkzeuge  raschen und engen Kontakt zu Auftraggebern, Kunden, Zulieferern und Mitarbeitern. Die-
                und welche Medien werden benötigt, wie verlaufen die Arbeitsprozesse, wie gehen die  ses kompakte Büro ordnet die gesellschaftlichen Bereiche wie Büroarbeit und Ökonomie,
                Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen miteinander um. Die entscheidende Frage eines Unter-  wie Ökologie und Politik neu. Es hilft, ökologisch zu arbeiten, etwa wenn die Mög lichkeit
                nehmens muss lauten: Reichen unsere Positionen aus für das Wohlbefinden bei der Ar-  genutzt wird, den Energiehaushalt des Büros und des Bürogebäudes zu optimieren, wenn
                beit? Was auffällt ist, dass es eine Menge Faktoren gibt, die ein Büro bestimmen, woraus  papierlos gearbeitet wird und Naturressourcen schonend genutzt werden. Der analoge
                folgt, dass die Reduktion auf hochwertiges Design oder die qualitativ gehaltvolle Einrich-  Raum kann so vor allem eine Basis als Ort der Zusammenkunft, des persönlichen (analo -
                tung nicht ausschlaggebend sind, wie vielfach angenommen wird. Zum Wohlbefinden  gen) Austauschs und der Kreativität werden. Da die materielose Produktion eine immer
                wollen die Augen zufriedengestellt werden, ebenso die anderen Sinne. Auch die Mög-  größere Rolle spielt, ändern sich Werkzeuge und Raumbedarf, sodass neue Büro-Formen
                lichkeit, sich bewegen zu können, sind ein wichtiger Ausgleich als Alternative zur ruhi-  wie das virtuelle und das offene – portable, mobile und ambulante – Büro entstehen.
                gen Büroarbeit. Wenn es um Wohlbefinden geht, müssen alle Bereiche miteinander har-
                monieren. In Unternehmen drückt sich das darin aus, dass Mitarbeitende gerne in dem  Kommunikation und Healing Environment sind das A und O
                Unternehmen arbeiten und bleiben wollen. Ein gutes employer branding: der gute Ruf
                als Folge der Arbeitsattraktivität aufgrund von Freude, Sinn und dem gemeinsamen Ziel.  Offene Büros haben keine definierte Raumgestalt, nahezu jeder Ort und jede Raum-Form
                Infolge der Differenzierung der produktiven Arbeit, der Zunahme an Dienstleistungen  kann zum Büro werden. Sie haben auch keine definierte Zeitgestalt mehr, denn feste Ar-
                und der Verwissenschaftlichung der Betriebswirtschaft entstehen in der Mitte des  beitszeiten sind passé. Entsprechend der unterschiedlichen Funktionen und Anforderun-
                20. Jahrhunderts Großraumbüros. Sie folgen der neuen Leitidee des gemeinsamen Arbei-  gen der modernen Arbeitswelt gibt es die unterschiedlichsten Bürotypen und Bürofor-
                tens an einem Projekt, der Teamarbeit. Sie sollen Transparenz, Kommunikation und den  men. Großraumbüros bieten mittlerweile Ruheinseln an, weil sich das auf das Wohlbe-
                Teamgeist fördern, bedeuten aber auch hohe Geräuschpegel, ständige Präsenz, geringe  finden und die Produktivität auswirkt. Zukunftsweisend ist das Smart-Office mit seiner
                Konzentrationsmöglichkeit sowie Mangel an individueller Raumgestaltung. Daneben ent-  variantenreichen Bürolandschaft für vielfältigste Aufgaben. Die Vielfalt der Büroraumfor-
                stehen Gruppenbüros, Zellenbüros, Zwei- und Mehrpersonen-Büros und das Cubical, ein  men bietet die Möglichkeit, die für ein Unternehmen charakteristischen und für die Art
                komplett eingerichtetes vier Quadratmeter großes Büro. Zum Ende des Jahrhunderts wird  seiner Arbeit notwendigen Büroformen und Büroeinrichtungen auszuwählen. Mit diesem
                innerhalb von zwei Jahrzehnten die Digitalisierung zum Standard der Büroarbeit. Com-  Paradigmenwechsel stellen sich auch neue für die Büroarbeit wichtige Erkenntnisse ein:

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