Page 48 - AIT0925_E-Paper
P. 48

REDINGS ESSAY

                                      DAS BALLHAUS




                                     UND DIE KATZE





                                                            Ein Essay von Dominik Reding





           Ü   bergroß, vom alten Sinn und dem Zwang der Statik teils gelöst, stand die Ruine.   Bauernpinte. Vor der schroffen Ruinenfassade kreisten Schwalben, durch den türlosen
               Sanft strich der schmeichelnde Sommerwind vorbei an den nichts mehr tragenden
                                                                         Eingang trat ich ein. Das Ballsaalrechteck ohne Boden und Dach war lange schon ein
           Säulen, durch das Eingangstor, das niemand mehr durchquerte. Längst wuchsen üppig   wilder Garten. Den vereinzelt noch verputzten, stuckverzierten Backsteinwänden ent-
           blühende Kräuter in den Ritzen der gebrochenen Stufen, dösten Eidechsen in den glaslo-  strömte die Wärme des Tages und der eigentümliche Geruch nach Waldboden und feuch-
           sen Fensterhöhlen, schien die Sonne durch das steinerne Rechteck, wie in die Cella eines   tem Mauerwerk. Ein grüner Dämmer lag über dem Rechteck, und etwas, das allen abge-
           dorischen Tempels, lange schon seines schützenden Daches beraubt. Die Natur siedelte   legenen Ruinen innewohnt, ganz gleich ob auf Delos oder Kreta oder im Sauerland: die
           im Inneren, hatte den zersplitterten Boden durch eine Wiese, den Stuck durch Efeu, die   Stille. Erhaben, mächtig, zwingend. Die Stille der Einsamkeit, die Stille des verhallten
           Kronleuchter durch Holunderbüsche, die Garderobenständer durch Robinien ersetzt. Gar-  Lachens, des verstummten Gebets, die Stille des langen Abschieds, die Stille der ewigen
           derobenständer? Robinien? Keine Ölbäume, keine Zypressen, kein Oleander? Keine säu-  Nacht. Bauten sind Zeichen des Lebens, verschwundene Bauten Ausdruck des Kommens
           lenumstandene Tempelruine in Segesta oder Selinunt oder Baalbek, kein frisch ergrabe-  und Gehens, selbstverständlich, unvermeidlich, Ruinen aber sind die Zeichen des Schei-
           nes Peristyl in Pompeji, kein bröckelndes Mausoleum an der Via Appia? Nein, am Rand   terns. Scheitern von Königreichen, von Liebschaften, von politischen Versprechungen,
           des Sauerlandes stand die Ruine, inmitten von Kuhweiden und Kornfeldern. Nach einer   von Familien und ihrer Sehnsucht nach Größe und Macht, von Testamenten verschwun-
           langen Wanderung im tiefsten Winter – hungrig und durchgefroren, im Schneetreiben bei   dener Religionen, von gewagten Unternehmungen und risikofreudigen Unternehmen.
           Minusgraden – war ich ihr begegnet.  Aber nicht erst ihr, sondern einem Gasthaus neben-  Ruinen geben der Hülle zerfallener Ideen keine neue Nutzung, kein Weiterleben in ande-
           an. Ein alter Bauernkotten, gedrungen, einstöckig, aus Bruchsteinen grob gemauert, mit   rer Form. Ruinen sind ehrlich. Ich eilte durch das Grün des Rechtecks, stieg auf mein Rad,
           behäbigem Satteldach. „Rindsragout mit Kroketten“ und „Hühnersuppe mit Eierstich“  fuhr schnell davon. Die leeren Fensteraugen der Ruine spürte ich im Nacken, wie ihr
           bot die Speisekarte. Mir taten die Wärme, die Bleiglasfenster mit Bier-Reklamen, das  amüsierter, wissender Blick: Warte, was von Deiner Zeit, warte, was von Dir einst übrig
           dampfende Süppchen und eine Katze, die unter der Fensterbank fest schlief, gut. Beim   bleibt. „Nichts, nichts, nichts“, schien bei jedem Tritt das Quietschen der Pedale zu ant-
           Verlassen erst, zurück in Kälte und Schnee, im eiligen Vorbeihu-             worten. Vor fünf Jahren war ich zuletzt dort, aber nicht nur des-
           schen entdeckte ich die Ruine. Wand an Wand mit der Gastwirt-                halb benutze ich die Vergangenheitsform. Es gibt die Ballsaalrui-
           schaft ragte sie in den dunkelgrauen Winterhimmel, von der                   ne nicht mehr. Und auch nicht die schattenspendende Stallgiebel-
           Straße aber um einen Vorgarten mit Kastanien zurückgesetzt.                  mauer an der Dorfstraße. Und selbst die für 900 Jahre unbebaute
           Eine mächtige, dreistöckige Putzfassade, grau und rissig, im Stil            Festwiese ist vergangen, wie auch das krummbuckelige Hand-
           einer „Jugendstil-Fantasie-Renaissance“, erbaut wohl um 1900.                werkerhaus an der Weggabelung. Ein strahlend weißer Neubau
           Die Fenster, der Eingang, verziert und prächtig, sie führten ins             mit sechs Eigentumswohnungen trat an dessen Stelle,  zwei
           Nichts. Was mochte das Gebäude dahinter überflüssig gemacht,                 schmale Einfamilienhäuser ersetzen die Kastanienkronen-über-
           was ausgelöscht haben? Ein Krieg? Ein Blitzschlag? Ein allzu                 wölbte Festwiese, diesen grünen Ballsaal unter freiem Himmel.
           nachlässig gelöschtes Kaminfeuer? Die Kälte vertrieb mich, im                Sicher, das ist der Lauf der Welt, die Macht der Ökonomie. Was
           Nähe zur Großstadt bäuerlich-friedlich, unberührt-vergangen  Foto: Benjamin Reding  nicht mehr gebraucht wird, was weder dem herrschaftlichen
           Sommer kam ich erneut.  Ein großer, strahlender Sommer, fast
                                                                                        Ruhm noch der Gewinnvermehrung, was weder der erhofften
           täglich fuhr ich jetzt mit dem Rad in diesen Ort, der trotz seiner
                                                                                        Erlösung noch dem Schutz dienen kann, das muss fort. So war es
           geblieben war. In dieser Art waren auch seine anderen „Attraktionen“: Eine Sandstein-ge-  immer, so wird es immer sein. Kein Grund zum Weltschmerz. Aber das ist es nicht allein.
           fasste Backsteinmauer, die einst die Giebelseite einer stattlichen Scheune gewesen war   Dort, wo die jugendstilige Ruine stand, wächst Gras, dort, wo sich der Stallgiebel erhob,
           und die nun, als einsamer Rest am Wegesrand, im Herbst vor Sturm schützte und im   harmloses Unkraut. Das gestattete Argument der Ökonomie, der Zwang zur Erneuerung,
           Sommer mit ihrem langen Schatten Kühlung schenkte, ein stolzes, biedermeierliches  greift hier nicht. Etwas anderes, eine andere, tiefere, geheimere Botschaft der Ruinen
           Handwerkerhaus an einer Weggabelung, seit Jahren verlassen schon, mit wehenden  muss ihr Verschwinden forciert haben. Etwas, was man nicht gern hört, nicht gern sieht,
           Gardinen hinter zerbrochenen Fensterscheiben, und nicht zuletzt der Dorfanger, ein Ball-  gar nicht gern begreift. Eine Botschaft vom Altern in Würde, von Hoffnungen, die sich
           saal unter freiem Himmel, von mächtigen Kastanien überwölbt, umstanden von den   nicht erfüllt haben; ...von zu kurzer, tatsächlicher Existenz und in Bauten behaupteter,
           Höfen der örtlichen Großbauern und seit 900 Jahren unbebaut geblieben, um dort die   eigener Ewigkeit; von immer neuen  Versprechungen und der Unmöglichkeit, sie zu hal-
           Feste und Hochzeiten der Bauernsöhne und -töchter gemeinsam mit den Dorfbewohnern   ten; von Dingen, die größer, unbezwingbarer, unerfüllbarer sind als alle Glücksbehaup-
           zu begehen. „Die Feiern waren dann einige Jahre bei uns luxuriös und regenfest.“ Der  tungen der Ökonomie; eine Botschaft über die Unerklärlichkeit der Zeit, dass sie ihr
           Gastwirt sagte es mir, als ich im Sommer zur Ruine zurückkehrte. „Das waren gute  unlösbares Geheimnis bergen wird. „Es war das Bauordnungsamt.“ Der alte Wirt sagt es
           Jahre.“ Er seufzte. „Dann war Schluss.“ „Dann kam der Krieg“, sagte ich, seinen Text aufs   – er wohnt noch in dem Bruchsteinhaus, das bis vor ein paar Jahren als Gaststätte fun-
           Geratewohl ergänzend. „Nein, dann kam Silvester. Silvester 1928.“„Bitte?!“ „Ja, ein gro-  gierte. „Nicht mehr standsicher, die müssen Sie festmachen oder abreißen, haben die
           ßes Feuerwerk vor dem Ballhaus. Das größte hier jemals. Da hat dann das Haus leider   gesagt.“ Er hockt auf einer Bank vor dem gedrungenen Bruchsteinhaus und krault die
           Feuer gefangen.“ Der Wirt seufze wieder. „Und warum wurde es nicht wieder aufge-  ergraute Katze. „Gottlob, die Ruine hatte keinen Denkmalschutz, da konnten wir dat olle
           baut?“ Die Katze erwachte, sprang auf seinen Schoß. „Ach, das sollte es auch, aber dann   Dingen abreißen.“ „Dann haben Sie ja alles richtig gemacht.“ Ich will es freundlich
           kam die Wirtschaftskrise, dann der Weltkrieg und danach sind ja alle in die Stadt gezo-  sagen, aber meine Stimme klingt schrill, klingt wütend. „Ja? Na, ich weiß nicht. Mich hat
           gen, Betrieb war hier keiner mehr.“ Der Wirt seufzte noch einmal, tief, und trank einen   dat olle Ding immer dran erinnert, dass man seine Zeit nutzen muss, dass man nicht so
           Korn aufs Haus. „Und Sie? Möchten Sie noch etwas? Einen Nachtisch oder einen Klaren?“  ewig hier ist.“ Er lächelt und hustet. „Carpe diem, ne?!“ Dann packt er die Katze und
           Selbst die sanfte Abendsonne draußen blendete, nach dem schläfrigen Dämmerlicht der   verschwindet rasch im Haus. Ein Regenschauer vertreibt erst sie, dann mich.

           048  •  AIT 9.2025
   43   44   45   46   47   48   49   50   51   52   53