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REDINGS ESSAY

                               ALEX DE L’AMOUR




                               UND SEINE KUNST





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





           E  r hatte Ausstellungen weltweit, seine Gemälde erzielten Spitzenpreise, private   ßem Marmor. Fixpunkt einer absoluten geometrischen Ruhe. Darüber eine kreisrunde
              Sammler stritten um jedes seiner Werke, seine Bilder wurden kopiert, gestohlen,
                                                                         Öffnung in der Decke, den Raum um eine ganze Etage erhöhend. Und noch darüber,
           sogar mutwillig verbrannt, er signierte stets in selbstbewusster Malertradition mit: „AD“,     wie ein erschöpftes Ausatmen nach all dem schweißtreibenden, architektonischen Kräf-
           seine modernistische Villa im Brasilianischen Urwald war Legende (und seine exaltierten   temessen, ein ebenso kreisrundes Oberlicht, als letzte Öffnung in die „Welt darüber“, in
           Launen ebenso), seine avantgardistischen Möbelentwürfe sind gesuchte Sammlerstücke,   das Transzendente, als fernes Zitat des „Opaions“, des römischen Pantheons. Das alles
           sein eigenwilliger Malstil – kindhaft-naiv und abstrakt-expressiv – wurde vielfach kopiert,   wussten wir nicht. Die Wucht dieses Raumes aber packte uns, ohne jede Erklärung, ohne
           doch nie erreicht. Aber seine Herkunft, seine Heimat und seinen Geburtsnamen kennt   Wissen um Kunstgeschichte. Der Raum überwältigte. Aber nicht wie ein Reichsparteitags-
           bis heute niemand. Auch sein umfangreiches Œuvre gilt als verloren. Nur sein sorgsam   gelände, ein Petersdom, ein Colosseum. Nicht durch geschwollene Stein-Muskeln, maß-
           gewählter Künstlername, der blieb: Alex de l’Amour. Und trotz allem: Nur wenige kennen   stäbliche Übermacht und axiale Brutalität. Der Raum spielte. Mit den Kräften, den Sin-
           ihn, sehr wenige. Um es genau zu sagen: nur zwei Personen… Es gibt wahrlich schönere   nen, den Linien und den Materialien: Stein, Holz, Stuck, Eisen, Glas und – wieder im fei-
           Orte als die Hagener Fußgängerzone im spätherbstlichen Nieselregen. Aber das Gebäude   nen Kontrast – einem ruhigen, musterlosen Kachelboden. Selbst der Geruch des Raumes
           lag versteckt, irgendwo am Rand der verwinkelten Einkaufsmeile. Wir stapften und such-  schien sorgfältig kalkuliert: Wasser auf Marmor, ein frischer, kühler, angenehmer Duft.
           ten und stapften weiter und suchten weiter, aber uns begegneten nur Parkhausrampen,   Hier, in diesem Raum, entbrannte unsere Liebe zur Architektur. Zurück zu Hause, Stunden
           Ladeneinfahrten und die ruppig-lustlos „gestalteten“ Fassaden der Kaufhausrückseiten.   später, hockten wir im Kinderzimmer vor unseren Holzbauklötzen und versuchten, diesen
           „Das ist es!“ Die Stimme meines Bruders, er stand geduckt und durchnässt in einer  Raum nachzubauen, ihn zu bannen, zu fixieren, in der Nach-Erschaffung zu begreifen,
           Parkhauseinfahrt, klang erleichtert. Das Bauwerk fiel im Wiederaufbau-Durcheinander   die Überwältigung erträglicher zu machen. Ähnlich den Urmenschen, die Mammuts und
           der Hagener City kaum auf. Nichts weiter als eine historistische Villa mit schalungsrau  Löwen auf den Windungen ihrer Felshöhlen malerisch festhielten, um sie fest-zu-halten.
           betoniertem 1970er-Jahre-Anbau.  Wir kramten nach                                   Dann, nach dem nächtlichen, rauschhaften Nachbauen
           Kleingeld und suchten den Eingang. Unser Patenonkel                                 galt es noch eine weitere Hürde zu nehmen: die Bilder!
           hatte uns den Besuch dringend empfohlen. Man könne                                  So gemalt, so wie ein Künstler, hatten wir noch nie. Was
           dort viel über Kunst lernen, behauptete er. Was aber so                             malt überhaupt ein Künstler und warum? Mit unseren
           genau „Kunst“ ist oder sein soll, das wussten wir nicht.                            Filzstiften nahmen  wir Anlauf, es hinzubekommen:
           Es war unser erster Besuch dort, überhaupt der erste                                Freie Kunst! Aber wir waren neunjährige Drittklässler, es
           selbstständige Besuch in einem Kunstmuseum.  Wir                                    wurde und war ein Spiel: Nicht wir, ein ganz besonderer
           waren enttäuscht. Zuerst. Der Eingang lag versteckt im                              Künstler sollte die Bilder geschaffen haben, mindestens
           Betonanbau und dahinter sah es aus wie in unserer                                   so bekannt wie Picasso. Dieser wundersame Name aus
           Grundschule. Reichlich aschgrauer Beton und Treppen                                 Hagen, Jan Thorn Prikker, gab uns die Inspiration:  „Alex
           und Flure mit signalrotem Kachelboden. Die neuere                                   de l’Amour“. Von nun an begann Alex de l’Amour sein
           Kunst kam im Haus zuerst: Großformate der uns bis                                   Eigenleben als Künstler. Es geriet, wie es sich für große
           dahin gänzlich unbekannten, abstrakten Moderne. Ek-                                 Künstler gehört, zu einem wilden, lang andauernden,
           statische Balken, Striche, Kleckse, Flächen, in allen Far-                          dramatischen Spiel. Viele Jahre später echote etwas von
           man hineinspringen und darin schwimmen. „Boah!” rief  Foto: Benjamin Reding         uns zurück: In Sao Paulo in Lina Bo Bardis Museum der
           ben des Regenbogens. Riesenbilder von Hans Hartung,
                                                                                               der Hagener Museumsüberwältigung noch einmal zu
           Fritz Winter, Ernst-Wilhelm Nay und dem Hagener Emil
           Schumacher, die so ultramarinblau leuchteten, als solle
                                                                                               modernen Kunst, in dessen zentralem Saal die ausge-
                                                                                               stellten Gemälde durch raumhohe Glasfronten mit der
           mein Bruder. Dann folgte die klassische Moderne. Auch von ihr wussten wir bis jetzt   Silhouette der Millionenstadt in einen Dialog treten, in Oscar Niemeyers Memorial-Muse-
           noch nicht viel: Kirchner, Schmidt-Rottluff, Marc, Macke, Pechstein und ein Glaskünstler,   um für den Stadtgründer Brasilias (Juscelino Kubitschek), das außer einigen Fotografien
           dessen Name so beindruckend klang, dass wir ihn uns merkten: Jan Thorn Prikker. Dann   und Manuskriptseiten des Politikers nichts weiter präsentiert als eine atemberaubend
           aber, plötzlich, nach einer schlichten Doppeltür, waren wir in einer anderen Welt. Es ging   gestaltete, futuristisch-geheimnisvolle „Schatzhöhle“, und in Frank Lloyd Wrights Gug-
           nicht um Kunst, jedenfalls nicht um „Kunst“, so wie wir Kunst hier bis jetzt gesehen und   genheim-Museum in New York, dessen schier endlose Flur-Spirale das Betrachten der
           begriffen hatten: als gerahmte Bilder an weißen Wänden. Hier war es ein Raum! Direkt   Bilder nicht einfacher, das räumliche Schauspiel des glasüberkuppelten Innenraums
           vor uns, im Altbau. Eigentlich nur ein Treppenhaus mit Flur. Weitläufig und überhoch,  aber umso kraftvoller macht. Derweil ging Alex de l’Amour, so berühmt er einst war,
           von cremeweiß gekalkten Stützen getragen. Überhaupt, hier zog sich alles in die Länge,   schlafen. Tief, für die nächsten 40 Jahre. Aber jetzt, vor ein paar Tagen, beim Aus-
           wie von geheimen Kräften nach oben, in höhere, ferne Sphären gehoben. Im Kontrast,   räumen unseres alten Elternhauses, in einem Kellerzimmer hinter Einmachgläsern,
           fast Widerspruch, gewolltem Widerspruch, dehnten sich hier und da einige Bauglieder:   fiel uns ein zerknautschtes, durchfeuchtetes Pappschächtelchen entgegen. Der Inhalt:
           Das gusseiserne Treppengeländer, als zwänge ihr Eigengewicht die Stäbe wie in einem  Eine Handvoll Gemälde! Originale des großen Alex de l’Amour! „Oh...“ Mein Bruder
           Tanz nach außen. Die hölzernen Treppenpodeste, als zwängen die darauf montierten   betrachtete den kleinen Rest des einst so geschätzten, so bedeutenden „Œuvres“.
           Vasen und Skulpturen das Holz zur angespannten Dehnung, und die Raumdecke, als   Wohin seine anderen Meisterwerke entschwunden sind, wir wissen es nicht. Wenn
           würde ihr Gewicht die Kapitelle der Stützen wie Knetgummi eindrücken, die Last den  Sie, werte Leserin, werter Leser, einen echten Alex de l’Amour entdecken – greifen
           Gips zum Herausquellen auffordern. Als Gegenpol zu den statischen Kämpfen im Raum   Sie zu! Er ist, wie Henry van de Veldes Brunnenraum im Karl-Ernst-Osthaus-Museum,
           plätscherte in seinem Zentrum ein Brunnen. Ein kreisrunder, massiver Block aus wei-  ein Traumbild: einmalig.

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