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Entwurf • Design Studio Binocle/Lorenzo Bini, IT-Mailand
                Bauherr • Client Massimo De Carlo Gallery, IT-Mailand
                Standort • Location Viale Lombardia 17, IT-Mailand
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                Nutzfläche • Floor space EG: 600 m , UG: 400 m 2
                Fotos • Photos Roberto Marossi, Delfino S. Legnani, Marco Cappelletti
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                Es muss nicht immer der White Cube sein: Trotz seiner starken Präsenz verträgt sich die Kunst gut mit dem Bestand. • It does not always have to be a White Cube: Despite its strong presence, the building goes well with the art. .


                von • by Dr. Uwe Bresan
                M    it dem Kinofilm „I Am Love“ aus dem Jahr 2009 gelang nicht nur der großarti-  pro Etage beträgt knapp 600 Quadratmeter –, während das zweite und dritte Oberge-
                     gen Tilda Swinton ein weiterer Karrierehöhepunkt; an ihrer Seite schaffte es
                                                                              schoss jeweils in zwei vermietbare Wohneinheiten aufgeteilt waren. Die Wohnung im
                auch der Architekt Piero Portaluppi (1888–1967) ins internationale Rampenlicht. Seine  vierten Obergeschoss firmierte ursprünglich als Junggesellen-Apartment und verfügt bis
                Mailänder Villa Necchi Campiglio, erbaut in den frühen 1930er-Jahren für eine vermö-  heute über einen direkten Zugang zur großzügig geschnittenen Dachterrasse. Das
                gende Industriellenfamilie und bis heute im Originalzustand erhalten, war neben  signifikantes te Element des Gebäudes war von Anfang an die aus Naturstein gefertigte
                Swinton der heimliche Star des Films. Seither wird das Haus, das seit 2008 als Mu-  Wendeltreppe im Garten-Hof des Hauses, die einen direkten Zugang aus der den Kin-
                seum dient, förmlich überrannt; und der Architekt – vorher nur ausgewiesenen Ken-  dern und den Bediensteten vorbehaltenen ersten Etage auf die Esszimmer-Terrasse im
                nern der norditalienischen Zwischenkriegsmoderne ein Begriff – genießt heute inner-  Erdgeschoss erlaubte. Ursprünglich war die Treppe übrigens Teil eines ephemeren Pa-
                halb der Profession regelrecht Kultstatus. Dass sich die Wiederentde ckung von Porta-  villonbaus zur Mailänder Triennale von 1933, den Portaluppi gemeinsam mit dem da-
                luppi mehr als 40 Jahre nach seinem Tod allein dem Hollywood-Auftritt seiner Villa  mals noch jungen und unbekannten Architekturbüro BBPR realisiert hatte. Nach dem
                verdankt, ist allerdings auch nicht ganz richtig. Vielmehr traf seine Architektur vor  Abriss des Pavillons wanderte die Treppe quer durch die Stadt in die Viale Lombardi.
                zehn Jahren auch auf einen veränderten Zeitgeist und ein neu erwachtes Interesse an
                den sogenannten „Kippfiguren“ der Moderne. So tragen Portaluppis Bauten mit ihren  Die Besucher empfängt ein nahezu intakter „Portaluppi“
                flachen Dächern, ornamentlosen Fassaden und übergroßen Glasflächen einerseits
                deutlich die konstruktiven und formalen Insignien der klassischen Moderne; verwei-  In den 1980er-Jahren verließen die letzten Erben der Familie Corbellini-Wassermann
                gern sich jedoch vor allem auf materieller und dekorativer Ebene mit ihren edlen  das Haus. Das erste Obergeschoss wurde abgetrennt und in Wohnungen aufgeteilt. Ins
                Wandvertäfelungen, opulenten Stuckdecken und üppigen Marmorintarsien deren as-  Erdgeschoss zogen Büros ein. Obwohl das Haus erst 2004 unter Denkmalschutz gestellt
                ketischen Idealen. Das macht eine eindeutige stilistische Zuordnung schwer und zu-  wurde, gingen die neuen Nutzer der ebenerdigen Wohn- und Repräsentationsräume
                gleich den besonderen Reiz von Portaluppis Architektur aus!    sehr sorgsam mit dem Bestand um. Und so fand Massimo De Carlo, als er die Wohnung
                                                                              2015 übernahm, einen nahezu intakten „Portaluppi“ vor – angefangen bei den Marmor-
                Das Haus verbindet Villa und Geschosswohnungsbau              böden und Türgewänden über die originalen Badezimmerausstattungen, die handbe-
                                                                              malten Tapeten im Entree, die monumentalen Stuckdecken und Schmuckkamine, Heiz-
                Seit diesem Frühjahr nun ist neben der Villa Necchi Campiglio und der ebenfalls seit ei-  körper-Verkleidungen, Fenster und Türen bis hin zu den mit dünnen Aluminiumprofilen
                nigen Jahren als Museum genutzten Casa Boschi Di Stefano ein drittes herausragendes  gefassten Walnussholzböden von Bibliothek, Salon, Herren- und Esszimmer. Für den
                Wohnensemble Portaluppis aus den 1930er-Jahren in der Mailänder Innenstadt öffent-  mit der Sanierung und dem Umbau zur Galerie beauftragten Architekten Lorenzo Bini
                lich zugänglich! Es handelt sich dabei um die sogenannte Casa Corbellini-Wassermann,  bestand die Aufgabe, die vorgefundenen Elemente von Schmutz und Patina zu befreien
                deren Bau 1934 begann    und die heute die Ausstellungs- und Büroräume des Galeristen  und die notwendige Licht-, Sicherheits- und Klimatechnik für den Galeriebetrieb mög-
                Massimo De Carlo beherbergt. Die ursprünglichen Bauherren waren der Ingenieur,  lichst unsichtbar zu integrieren. Beides gelang perfekt! Größere Eingriffe in die Substanz
                Hochschullehrer und Politiker Guido Corbellini und seine Frau Paola Wassermann,  und den historischen Grundriss erfolgten lediglich im ehemaligen Küchentrakt. Um
                Erbin eines bedeutenden italienischen Pharmaunternehmens. Anders als die Villa Nec-  mehr Ausstellungsfläche zu gewinnen, wurden hier sämtliche Trennwände entfernt und
                chi Campiglio entstand die Casa Corbellini-Wassermann nicht als frei stehendes Wohn-  eine neue Verbindung zum Hauptflur der Wohnung geschaffen. Im Durchgangsbereich
                haus, sondern als fünfgeschossiges Stadthaus in aufgelockerter Blockrandbebauung an  entstand zudem eine neue interne Erschließung ins Untergeschoss, wo Bini die notwen-
                der Viale Lombardi im Universitätsviertel Città Studi. Typologisch vereint das Gebäude  digen Büro- und Archivräume der Galerie „versteckte“. Fast die komplette Wohnung
                Villa und Geschosswohnungsbau. So dienten Erd- und erstes Obergeschoss der Familie  steht damit der Kunst und den Galeriebesuchern zur Verfügung. Jetzt fehlt nur noch das
                Corbellini-Wassermann als repräsentative und großzügige Residenz – die Grundfläche  passende neue Drehbuch für Tilda Swinton!


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