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WOHNEN • LIVING LITERATUR • LITERATURE
LITERATUR
BÜCHER ZU UNSEREM HEFTTHEMA, ZUM NACHHALTIGEN BAUEN SOWIE ROMANE ZUM WOHNEN
Wie wir wohnen wollen Duett der Moderne Visiting
„Unsere Städte sind zu voll, zu grau und zu teuer – und Zwei Viertel, zwei Visionen, ein gemeinsames Erbe: Mit Zwischen 1966 und 1989 planten und realisierten Inken
wenn wir es nicht selbst in die Hand nehmen, dann blei- dieser Publikation wollen die Herausgeber die Karl-Marx- und Hinrich Baller gemeinsam 25 Bauten in West-Berlin.
ben sie das auch!“ Mit diesem Appell wendet sich die Allee und das Hansaviertel erkunden – zwei ikonische Obwohl die meisten ihrer Gebäude im engen Rahmen des
studierte Architektin und Fachjournalistin Gabriela Beck Nachkriegsquartiere in Berlin und Sinnbild des architekto- sozialen Wohnungsbaus entstanden sind, bieten sie mit
an ihre LeserInnen. Denn es ist eng geworden in Deutsch- nischen Wettstreits zwischen Ost und West: Während ers- ihrer eigenständigen, expressiven und wiedererkennba-
lands Städten: Knapp 78 Prozent der Menschen leben in teres mit seiner Monumentalität und imposanten Wohn- ren Architektursprache immer mehr als den Standard: Sie
der Stadt, mit steigender Tendenz. Viele tun dies freiwillig häusern für eine sozialistische Baukultur steht, symboli- überzeugen durch Filigranität, Helligkeit, große Balkone,
und mit Begeisterung, andere eher aus pragmatischen siert das Hansaviertel die westliche Auffassung von urba- Terrassen und Gärten, eine gute Belichtung dank gläserner
Gründen. Dennoch zeichnet sich ab, dass uns diese Städte nem Wohnen. Mit Texten renommierter AutorInnen und Innenwände, großzügige Wohnungsgrundrisse und kom-
Zeit und Nerven kosten und häufig wirken, als wären sie vor allem durch die Fotografien von Bettina Cohen verbin- plexe Raumzusammenhänge über mehrere Etagen. Mit
nicht für Menschen gemacht: steigende Mieten, zu viele det das Buch Fotoessay, Fotokunst und Baukulturvermitt- ihren unkonventionellen Bauten, die damals die Fachwelt
Autos, zu wenig Grün und überall Dauerbaustellen. Kein lung. Denn die Bildserien zeigen nicht nur die Menschen polarisierten, schufen die Ballers Situationen, die bis heute
Wunder, dass die Frustration schneller wächst als die städ- in ihren Räumen mit all ihrer Komplexität und Intimität, als Vorbilder für qualitativen und bezahlbaren Wohnraum
tischen Speckgürtel. Gleichzeitig muss unser Wohnumfeld sondern spüren auch der jeweiligen Architektur und den sowie spannende Stadträume stehen. Diese umfassende
radikal angepasst werden: an den Klimawandel mit Stark- zentralen Idealen der Moderne nach: bezahlbarer Wohn- Werkübersicht, 2022 erstmals als Broschur im Verlag der
regen und Hitzeperioden, an eine alternde Gesellschaft, raum sowie bestmögliche Lebensqualität. Dies galt für die Buchhandlung Walther und Franz König erschienen und
an die Digitalisierung sowie neue Mobilitäts- und Energie- Planung der „Sozialistischen Straße“ und späteren Karl- schnell wieder vergriffen, liegt nun in einer korrigierten
konzepte. Ein „Weiter so“ funktioniert nicht mehr – doch Marx-Allee ab 1950 ebenso wie für das neue Hansaviertel Neuausgabe vor. Sie bietet eine ausführliche fotografische
darin liegt auch eine Chance. Mit diesem Buch möchte die 1957. Aus der einstigen Rivalität der Systeme ist heute ein Dokumentation des Ist-Zustands der Gebäude sowie die
Autorin einen Bauplan für den Wandel liefern, aufzeigen, Duo geworden, in dem Ost und West vereint sind. Der vollständigen und aufgearbeiteten Originalpläne. Ergänzt
wo wir ansetzen können, und dazu anregen, darüber zu Katalog zur Ausstellung „Duett der Moderne. Visionen für werden diese durch Dokumente wie Verkaufsbroschüren,
diskutieren, was unsere Städte eigentlich benötigen, um den Wiederaufbau in einer geteilten Stadt“, die noch bis Baustellenfotos und Luftbilder. Aufsätze und Gespräche
wieder lebenswerter zu werden. Dabei inspirieren viele September 2025 im Berliner Mitte Museum zu sehen ist, mit Inken und Hinrich Baller sowie mit BewohnerInnen
positive Beispiele dazu, sich ein wünschenswertes Wohn- ist künstlerischer Bildband und Zeitdokument zugleich – der Häuser runden die inhaltliche Reflexion ab und stel-
umfeld auszumalen. Denn die wichtigste Ressource einer eine Hommage an ein städtebauliches Erbe, in dem Archi- len die Frage, was der heutige Wohnungsbau von diesem
Stadt sind immer noch ihre Menschen. Also wir! tektur und Alltagsleben verschmelzen. offenen Raumverständnis lernen kann.
Wie wir wohnen wollen Duett der Moderne Visiting
Herausgegeben von Gabriela Beck. Herausgegeben von Jan Dimog und Hendrik Bohle. Herausgegeben von Urban Fragment Observatory.
Erschienen 2024 im Kösel Verlag, München. Erschienen 2025 im Deutschen Kunstverlag, Berlin. Erschienen 2025 bei Park Books, Zürich.
Deutsch. 224 Seiten. Hardcover. Format: 13,5 × 21,5 cm. 20,00 EUR. Deutsch/Englisch. 128 Seiten. Hardcover. Format: 23 × 28 cm. 30,00 EUR. Deutsch. 544 Seiten. Hardcover. Format: 17 × 24 cm. 48,00 EUR.
ISBN 978-3-466-37330-7 ISBN 978-3-422-80282-7 ISBN 978-3-03860-427-3
072 • AIT 7/8.2025