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Thomas Ferwagner Entwurf • Design Otto Jäger und Werner Müller, Stuttgart
Bauherr • Client Neue Heimat Baden-Württemberg
Standort • Location Stuttgart-Asemwald
Schreinerlehre, Architekturstudium AKA Stuttgart 1989 Gründung Büro Of- Wohnfläche • Floor space 90.906 m 2
ficium 1990 Diplom Leichte Flächentragwerke; weltweit Projekte Kunst, Fotos • Photos Archiv Asemwald, Thomas Ferwagner
Freizeit, Zooarchitektur, Sicherheit 2021 Verwaltungsbeirat Asemwald Mehr Infos auf Seite • More infos on page 142
Archiv Asemwald Foto: Thomas Ferwagner
Foto:
Vier Jahre Bauzeit für 1.143 Wohnungen • Four years of construction for 1,143 flats Dachgeschosswohnung des Autors • The author’s flat on the top floor
der 1960er-Jahre die gewerkschaftsnahe Neue Heimat Baden-Württemberg als Bauherr ohne öffentliche Fördergelder, was durch eine rationalisierte Bauweise mit gleichen Be-
für das städtebauliche Experiment gewinnen. Schwerpunkte beim Projekt Asemwald tonfertigteilen in großer Menge erreicht werden sollte. Die Idee war ein vertikales Dorf,
waren: Schaffung stadtnahen Wohnraumes zur Linderung der Wohnungsnot, Verbesse- wie der Asemwald ja manchmal bis heute genannt wird. Im Werbetext der gemeinnüt-
rung des Wohnstandards, Entwicklung städtischer Kommunikation mit vielfältigen Ein- zigen Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft Neue Heimat Baden-Württemberg, deren Ge-
kaufsmöglichkeiten sowie Erholungs- und Freizeiteinrichtungen, wirtschaftliches und schäftsführer seinerzeit der spätere Ministerpräsident Lothar Späth war, hieß es 1968:
preiswertes Wohnungsangebot durch die rationalisierte Verwendung von möglichst vie- „Hier wohnen Sie unbeschwert, losgelöst vom hektischen Alltag, frei von überkomme-
len, exakt gleichen Betonfertigteilen, im Vergleich zu Einzelhäusern niedrige Grund- nen „‚Wohnkonzeptionen‘. Hier wohnen Sie modern im besten Sinne des Wortes.“
stücks- und Erschließungskosten, eine gleichwertige Alternative zur bedrohlich zuneh- Schon aufgrund derAbmessungen und der weithin sichtbaren Silhouette ist diese Wohn-
menden Zersiedelung, Schonung des vorhandenen Waldbestandes und Einbeziehung stadt ein gebautes Sinnbild der städteplanerischen Auffassung der 1960er-Jahre. Archi-
der Naturlandschaft, drei zweigeschossige Tiefgaragen unter den Außenanlagen – und tektonisch sind die Gebäude dem Brutalismus zuzuordnen – einer Bauweise, bei der der
jeder Bewohner sollte im Aufzug direkt vor seine Wohnung fahren können. verwendete Beton nach dem Ausschalen sichtbar bleibt. Über die Architekten Otto Jäger
und Werner Müller ist heute wenig bekannt, obwohl sie im Raum Stuttgart einige Bau-
Von Anfang an für Eigentumswohnungen konzipiert werke und Siedlungsprojekte realisiert haben. Otto Jäger sagte in seiner schwäbischen
Bescheidenheit einmal, dass von ihm eines Tages wohl nur einige Grundrisse blieben.
Das im November 1963 eingereichte Baugesuch umfasste drei Hochhäuser, eines mit 21 Was in der Festzeitschrift zum 40-jährigen Jubiläum von Asemwald-Bewohner Immo
und zwei mit 23 Geschossen, insgesamt 1.143 Wohnungen für rund 3.600 Bewohner, min- Dehnert so kommentiert wurde: „Und, was einem schon bei der ersten Begegnung an-
destens 70 Prozent Verkauf an in Stuttgart Ansässige oder hier Beschäftigte. Nach zehn genehm auffällt – und mit längerer Wohndauer mehr und mehr – das sind die klug durch-
Jahren Planung und Projektierung wurde die Wohnstadt nach vier Jahren Bauzeit 1972 dachten Grundrisse der insgesamt 1100 Wohneinheiten“. Seit Fertigstellung bildet der
mit insgesamt 90.906 Quadratmetern Wohnfläche fertiggestellt, realisiert auf einer über- Asemwald eine der größten Wohnungseigentümergemeinschaften in Deutschland. Die
bauten Fläche von nur 10.829 Quadratmetern! Die drei Gebäudescheiben stehen in ver- alljährliche Eigentümerversammlung ist immer eine logistische Herausforderung.
setzter, verschattungsfreier Anordnung: zwei Gebäude mit Nord-Süd- und eines, 90 Grad
gedreht, mit Ost-West-Ausrichtung. Magdalena Scholz schreibt in ihrer bemerkenswerten „Hannibal“ in der Presse: Bandscheibenvorfall der Landschaft
Architektur-Masterarbeit „Die Kontroverse der Wohnstadt Stuttgart Asemwald 2017“:
„Letztlich konnten Jäger und Müller ihre jahrelang entwickelten Ideen der Stadt im Hoch- Der langjährige Planungsprozess wurde von einer intensiven öffentlichen Diskussion in
haus bei Rationalisierung der Architektur (…) umsetzen. Zwar geschah dies nicht mit der gesamten Bundesrepublik begleitet. Lange Artikel im SPIEGEL, der ZEIT und natür-
ihren ursprünglichen Entwürfen, trotzdem haben die Architekten eine Wohnstadt ge- lich zahlreiche Diskussionen in der lokalen Presse setzten sich mit dem Bauvorhaben
schaffen, die die Idee der dörflichen Struktur in einem Gebäudekomplex umsetzt. Durch auseinander – meist kritisch mit vorwiegend unheilvollen Prophezeiungen. Zunächst
die enge Zusammenarbeit der Architekten mit der Politik und dem Bauträger kann man nannten Planer und Projektbeteiligte das Bauvorhaben „Hannibal“. Man dachte an eine
von einem Gemeinschaftsprojekt sprechen.“ Der Asemwald war von Anfang an für Ei- Art Marketingname, aber auch eine historische Anspielung war darin enthalten: Das
gentumswohnungen konzipiert und daher frei von den Planungsvorgaben des sozialen große Gebäude vor den Toren Stuttgarts konnte an die berühmten Elefanten des puni-
Wohnungsbaus. Dennoch sollten die Kosten laut Planer die damalige geltende Kosten- schen Feldherrn erinnern. Bereits mit der ersten Veröffentlichung des Konzeptes 1959 be-
grenze für den sozialen Wohnungsbau nicht überschreiten und gleichzeitig mehr Komfort richtete die Stuttgarter Zeitung unter der Überschrift „Hannibal – ein Bandscheibenvorfall
der Wohnungen durch größere Grundrisse und bessere Ausstattung bieten – dies alles der Landschaft“ und warnte davor, dass die Mitmenschen durch Kasernierung ... (in der
AIT 7/8.2022 • 119