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WOHNEN • LIVING THEORIE • THEORY



                                                                eingeborenen Trostlosigkeit) … unausweichlich in physische Zwänge geraten. Es wurde erwartet, dass
                                                                die Bewohner zu Massenmenschen in einer Wohnmaschine werden, die für die Gemeinschaft vor allem
                                                                in Krisenzeiten noch weit gefährlicher sind als überspitzte Individualisten. Oder wie der Asemwald-Be-
                                                                wohner Wolfgang Walla in „Asemwald intern“ schrieb: „Hätten die Kritiker rechtbehalten, dann wären
            Archiv Asemwald, aus Informationsbroschüre „Wohnstadt Asemwald Stuttgart“  ähnlich gestalteten Mietwohnanlagen. Diese Identifikation wird mitunter von Generation zu Generation
                                                                wir Asemwälder heute eine Ansammlung bedauernswerter psychopathologischer Alkoholiker oder ge-
                                                                meingefährliche Massenmenschen. Was von den negativen Vorhersagen hat sich bewahrheitet? Nichts!
                                                                Absolut nichts! Natürlich ist auch derAsemwald ständigen Veränderungen ausgesetzt, aber bis zum heu-
                                                                tigen Tage hat er sich als geschätzte Wohnanlage erwiesen. Dafür gibt es vier wesentliche Gründe:
                                                                1. Die Wohnstadt Asemwald wurde von Anfang an als reine Wohneigentumsanlage mit einem über-
                                                                durchschnittlichen und nachhaltigen, aber auch wirtschaftlichen Ausbaustandard konzipiert. Neben
                                                                einem gewissen Anteil an Mietern leben bis heute hier überwiegend Eigentümer. 2. Diese Grundeinstel-
                                                                lung hat von Anfang an ein identitätsstiftendes Zusammenleben geprägt – im Gegensatz zu anderen,

                                                                weitergegeben – Familienstammbäume innerhalb des Asemwaldes sind nicht unüblich - es gibt Fami-


                                                                Anteile am gesamten Stadtteil erworben! Außenanlagen, Tiefgaragen, Schwimmbad, Wald und Wege
                                                                sind Gemeinschaftseigentum, für das gemeinsam gesorgt werden muss. Dadurch werden Verantwort-
            Fotos:                                              lien, die bereits in vierter Generation hier leben! Mit dem Erwerb der Eigentumswohnung werden auch
                                                                lichkeit und Bewusstsein geschaffen, die über die eigenen Wände hinausgehen! 4. Anders als Mieter
            Musterwohnungseinrichtungen entstanden in ... • Model apartment facilities were created ...  achten Wohnungseigentümer deutlich mehr auf Werterhalt und auch auf gute Nachbarschaft: Man
                                                                nimmt Anteil am Leben anderer, man kümmert sich um das Gemeinschaftseigentum und auch umein-
                                                                ander – unabhängig davon, ob jemand schon vierzig Jahre hier wohnt oder gerade erst eingezogen ist.“

                                                                Rationelles Bauen mit überdurchschnittlicher Wohnungsqualität

            ... Zusammenarbeit mit InnenarchitektInnen ... • ... in cooperation with interior designers ...  Der architektonische Entwurf der Wohnstadt orientierte sich sehr eng an Konstruktion und Fertigungs-
                                                                technik, was ein rationelles Bauen mit überdurchschnittlicher Wohnungsqualität erlaubte: eine weit-
                                                                räumige Konstruktion mit einem übersichtlichen Gebäudegrundriss. Da nur die Wohnungstrennwände
                                                                als Tragwände ausgebildet wurden, ergaben sich recht große Deckenspannweiten von sechs bis sieben
                                                                Metern, die eine sehr wirtschaftliche Ableitung der Lasten auf die Streifenfundamente erlaubte – ohne
                                                                aufwendige Abfangungenim Erdgeschoss oder den sonst üblichen Plattengründungen. Für die großen
                                                                Deckenspannweiten war zwar ein höherer Materialbedarf notwendig, dessen Mehrkosten aber durch
                                                                die kurze Herstellungszeit mehr als wettgemacht wurden. Decken und Wände wurden mit einem so-
                                                                genannten Schalwagen, der über die gesamte Gebäudelänge fuhr, in einem durchgängigen Arbeitsgang
                                                                hergestellt! Ergänzend wurden Balkonbrüstungen, Treppenläufe und Aufzugsschächte als vorgefertigte
                                                                Bauteile in die Ortbetonkonstruktion eingesetzt. Nach der Schalung und der Anlieferung der Betonfer-
                                                                tigteile – zwei Arbeitsschritte, die eng aufeinander abgestimmt waren – folgte der Einbau der in großen
                                                                Stückzahlen hergestellten Ausbauelemente wie Fenster und Türen im Abstand von einigen Geschossen.
                                                                Bei der Planung der Fassaden wurden für die Längsseiten zwei sehr unterschiedliche Ausführungen ent-
                                                                wickelt: So finden wir eine eher geschlossene Ausbildung der zu den Straßen hin orientierten Funkti-
                                                                onsseiten mit außenliegenden Fluchttreppenhäusern, Aufzügen und den Arbeits- oder Schlafzimmern
                                                                der Wohnungen, die sich über die gesamte Tiefe erstrecken. Zu erkennen ist eine durchgehend struk-
                                                                turierte Fassadengestaltung mit ausgeprägten Vor- und Rücksprüngen. Dabei bilden die durchgängigen
                                                                Brüstungsbänder an jeder Etage eine klare horizontale Rhythmisierung im menschlichen Maßstab. Da-
                                                                gegen sind die Fassaden der Wohnseiten sehr offen ausgebildet mit Aussicht nach Westen (Gebäude B
            ... und der Zeitschrift „zuhause“ – im Stil der Zeit. • ... and the magazine "zuhause".  und C) und Süden (Gebäude A). Die Offenheit der Fassaden lässt sich besonders nach einbrechender
                                                                Dunkelheit ablesen, wenn durch die in den Wohnungen eingeschalteten Beleuchtungen ein heiteres
                                                                Farbenspiel entsteht. Aufgrund ihrer Ausrichtung weg von den Straßen sind die Wohnseiten schwer
                                                                von außen einsehbar und vermitteln den Bewohnenden ein ausgeprägt privates Wohngefühl – trotz der
                                                                außergewöhnlichen Größe der Wohnstadt Asemwald. Der direkte Blick aus dem Fenster auf den Wald
                                                                in den unteren Etagen, über die Baumwipfel hinweg in den mittleren, oder die Sicht in die Ferne in den
                                                                oberen Bereichen vermittelt ein angenehmes Gefühl der Zurückgezogenheit, die durch den auskragen-
                                                                den Sichtschutz aus Betonfertigteilen noch verstärkt wird. Die einheitliche Farbgestaltung der textilen
                                                                Sonnenschutzelemente in Orange bildet ein markantes Merkmal des Asemwaldes, besonders in den
                                                                sonnigen Jahreszeiten. Die Stirnseiten dagegen sind komplett geschlossene Waschbetonfassaden – ein
                                                                typischer Baustoff dieser Jahre, der an den Längsfassaden glücklicherweise sonst nur noch als schmales
                                                                Band an den oberen Gebäudekanten eingesetzt wurde. Besonders hervorzuheben sind die beiden nach
                                                                Süden ausgerichteten Stirnseiten (Gebäude B und C), bei der die Wohnqualität der dort angesiedelten
                                                                Wohnungen mit großzügigen Loggien deutlich gesteigert wurde. Die komplette Eingangsfläche im Erd-
                                                                geschoss ist ausschließlich den gemeinschaftlich genutzten Bereichen vorbehalten: Waschküchen mit
                                                                Trockenraum, Fahrrad- und Müllräumen, sowie den Erschließungszonen, bei denen sich zwei Häuser
                                                                einen Eingang teilen. Die Farbgestaltung dieser Innenwände ist noch original 1970er-Jahre mit kräftigen
                                                                Farblinien, eingebettet in einen Olivton. Muster und Linienfarben variieren in jedem Eingangsbereich.
                                                                Die Betonflächen von Aufzugsschacht und Fluchttreppen sind in einem leuchtenden Orange bezie-

            120 • AIT 7/8.2022
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