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BAR HOTEL RESTAURANT
RESTAURANT LUNAR
IN SHANGHAI
Entwurf • Design Sò Studio, CN-Shanghai
Die Stärke von Yifan Wu und Mengjie Liu von Sò Studio liegt im
Schaffen von sanften Räumen – Räume, die eine schier endlose Ruhe
ausstrahlen. Dazu verknüpfen sie Elemente der traditionellen chine-
sischen Architektur mit zeitgenössischer Gestaltung. Und erreichen
damit, was nur wenigen gelingt: eine authentische Erneuerung des
Bestehenden, ein Transfer des Traditionellen in die heutige Zeit.
von • by Theresa Hütte
E in drastischer Kontrast zum Straßenlärm und hektischem Stadtleben: Wer das Res-
taurant Lunar in Shanghai betritt, wird in eine wohltuende Ruhe gehüllt. Sofort
drängt sich der Wunsch auf, sich nur noch auf Zehenspitzen fortzubewegen und im Flüs-
terton zu sprechen. So viel Ehrfurcht und zugleich Gelassenheit vermag sonst nur die
Natur selbst in uns auszulösen. Dieses Gefühl, das Flora und Fauna in uns bewirkt – He-
runterkommen, Durchatmen und Entspannen – in einem Raum einzufangen, scheint ein
Widerspruch in sich. Eine Absurdität: Einen Raum zu bauen, um sich darin wie draußen
zu fühlen – bleibt gerade deswegen vermutlich die höchste Disziplin der Innenarchitektur,
die nur selten gelingt. Ausgangspunkt für die räumliche Gestaltung und Kulinarik des
Lunar ist der chinesische Mondkalender. Ein Geschmackserlebnis unter der Berücksich-
tigung der Mondzyklen bedeutet vor allen Dingen, saisonale und regionale Produkte zu
verarbeiten; Speisen im Einklang mit der Natur, ohne künstliche Verarbeitungsprozesse
des Menschen. Ein Gefühl, das auch das Interieur vermitteln soll: Einklang, Reinheit und
Gelassenheit. Als Inspiration dienten die Jiangnan-Gärten, die Harmonie von Erde, Him-
mel, Steinen, Wasser, Gebäuden, Wegen, Pflanzen und dem Menschen anstreben. Wer
das Lunar betritt, wird von sanften Tönen, dezenten Materialien und köstlichen Düften
empfangen. Im Loungebereich des Erdgeschosses wird ausschließlich Tee ausgeschenkt.
Von warmtonigem Terrazzo und einer beschützenden Deckeninstallation umfangen, wird
hier besonders ein Sinn betört: Getrocknete und zu Ziegeln gepresste Teeblätter verströ-
men in Form einer Wandinstallation ihren besonderen Duft. Folgen BesucherInnen der
Treppe in das Obergeschoss, gelangen sie zum Essbereich. Wandmalereien in dezenten
Orangetönen imitieren schimmerndes Mondlicht. In leichten Rundungen legt sich die
hölzerne Vertäfelung in einer schützenden Geste um die Tische und formt zugleich sepa-
rate Sitzgruppen. Sò Studio gestalteten einen vornehmen, ruhigen Raum, der von Stille
und Anmut zeugt. Eine dezente Zurückhaltung, die den perfekten Rahmen für den eigent-
lichen Star des Restaurants bildet: die kulinarischen Köstlichkeiten auf den Tellern!
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