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REDINGS ESSAY



                                                  NUR MUT!








                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            D   ie Stadt wollte uns nicht gefallen. Ein Bankenviertel mit Hochhäusern, gläsern, glit-  gewesen, auch Stadtraum ist öffentlich, Plätze, Straßen, Parks können mehr gestalteter
                zernd, glatt, wie in jeder Großstadt. Ein Park mit Kriegerdenkmal, scharfkantig und
                                                                          und genutzter Raum sein als all die aufgezählten Gebäude, was uns jede italienische,
            marmorschwer, seelenloser Nekrolog, umrundet von Joggern, Walkern, Skatern, wie  griechische, spanische, orientalische und auch deutsche Altstadt lässig demonstriert.
            überall von London bis Shanghai; ein Kneipenviertel, in dem wir in der Nacht zuvor „ur-  Und während ich nach einer Sitzbank suchte, zum Ausruhen, die es nicht gab, oder
            banes Leben“ gesucht hatten, aber nur auf Horden trinklauniger Junggesellen stießen  einem Baum zum Anlehen, den es nicht gab, oder einem Rasenstück mit Tauben, ein-
            und einer Schlägerei knapp entkommen konnten. Selbst die Runden im Hotel-Swim-  fach, um ihnen zuzusehen, das es nicht gab, und meine Augen auf den Fassaden, an
            mingpool im 14. Stock, mit dem Blick über die Skyline, eine Bahnfahrt in die Berge, die  Details, Halt suchten und nicht fanden, dachte ich an Sydney, an Utzon und seine Oper.
            nach Eukalyptus dufteten, und selbst ein Abendessen mit einem Filmstar, den wir nicht,  An den Preisbegründungtext der Jury, in dem ein anonymes Mitglied erklärt, sie seien,
            aber dort alle kannten, in dieser großen, weit entfernten, fremden, seltsam beliebigen  während sie die fast 300 Wettbewerbsentwürfe durchgingen, immer wieder zu Utzons
            Metropole, versöhnten uns nicht. Oft verbindet sich mit dem Namen einer Stadt ein in-  Entwurf zurückgekehrt, nicht los kommend von seinem packenden, ganz und gar unge-
            neres Bild, ein Kinderbild, einfach und klar: Paris? Notre Dame, küssende Paare an den  wohnten, aber sicheren, klaren Gestaltungswillen. Und dachte an die staunenden, gaf-
            Champs-Élysées, der mucksmausetot fotografierte Eifelturm. Moskau? Der Kreml, der  fenden, fröhlichen Selfie-Knipser in Sydney und an Utzon, dem mit seiner Oper etwas
            Rote Platz natürlich, die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale, das Lenin-Mausoleum  architektonisch höchst Seltenes gelang: Volkstümlich zu werden, ohne Kitsch, ohne tri-
            im Schneetreiben. Rom? Gebirge zerbröckelnder Säulen, Kirchen, Obelisken, ein seg-  vial zu sein. Und während ich als Zentrum des neuen urbanen Quartiers einen Gulli-
            nender Papst und zwei Kuppeln, Petersdom und Pantheon noch dazu. London? Eine  deckel im Kreuzungspunkt seiner vier Straßen ausmachte, erinnerte ich mich an einen
            Queen mit Handtasche, winkend vom Balkon des Buckingham Palace. San Francisco?  Briefmarkenblock, kurz vor der Jahrtausendwende kam er heraus, „Deutsche Architek-
            Diese rote Brücke und kiffende Hippies im Park. Rio?                                 tur nach 1945“ betitelt. Vier Bauwerke und vier Archi-
            Strand, Sonne und Zuckerhut. Peking? Kaiserpalast                                    tekten hatten es aus 50 Jahren Nachkriegsmoderne
            und Mao-Bild. Barcelona? Gaudis Sagrada Familia.                                     auf die Marken geschafft: Gottfried Böhms Wallfahrts-
            Kairo: Mumien und Pyramiden. Aber, ach, was hätte                                    kirche  in  Neviges,  Hans  Scharouns  Philharmonie,
            man zu dieser Stadt sagen können? Eigentlich woll-                                   Mies van der Rohes Nationalgalerie und, als neuestes,
            ten wir die Attraktion schon gar nicht mehr sehen.                                   aber schon damals 30 Jahre altes Bauwerk: Frei Ottos
            Die einzig, wirkliche Sehenswürdigkeit, gewiss von                                   und Günther Behnischs Olympiadach in München.
            Touristen umlagert, zum Selfie-Abschuss freigege-                                     Und so willkürlich die Auswahl auch anmuten mag,
            ben. Auch der Weg dahin war banal, Vorstadt-Hoch-                                    die Post hatte recht: nur diesen vier Bauten der bun-
            häuser, aufgereiht wie parkende Autos, jedes im Mo-                                  desrepublikanischen  Moderne  war  es  gelungen,
            dekleid der Bauzeit: Flugdach und Brise Soleil, bru-                                 volkstümlich zu werden. Und ich grübelte, welche
            talistischer  Beton,  golden  eloxiertes  Glas.  Dann,                               Bauwerke jetzt, 2021 noch hätten hinzukommen kön-
            plötzlich, öffnete sich der Blick: auf eine Brücke, im-                              nen, welchen es gelang, nicht nur bekannt, nicht nur
            merhin, fast so dramatisch wie ihr großer Bruder in                                  von Kritikern bewundert, sondern volkstümlich zu
            San Francisco und am Ende des Weges, am Ende                                         werden, allgemein beliebt zu sein. (Das Wort „Liebe“
            der Landzunge: Dieses Gebäude, weltweit bekannt,                                     verbirgt sich in „beliebt“). Da hat es die Moderne
            mit seinen weißen, sich reckenden Schalen. Wie                                       schwer, vielleicht sind die Bauten der Vergangenheit,
            Segel, gotische Gewölbe, Gletscher, zerwühlte Bett-  Foto: Benjamin Reding           mit ihren haltgebenden Symmetrien, ihrem treffsicher
            laken (der Vergleiche gab und gibt es viele): Jørn Ut-                               Kostbarkeit  und  Können  signalisierenden  Bau-
            zons Sydney Opera House. Und es war, wie erwartet,                                   schmuck und ihren Schutz und Wärme vermittelnden
            Ausflugsziel und Touristen-Attraktion, Selfie-Hintergrund und Partymeile, aber, doch, es  Dächern den filigranen Gebilden der modernen Architektur strategisch überlegen. Vor
            war auch schön, eine kraftvolle, gelungene Skulptur vor dem harten Blau des australi-  Langhans´ Brandenburger Tor knipsen sich selbst in Corona-Zeiten die Touristen im Mil-
            schen Himmels, dem seltsam beliebigen Ort einen Namen gebend: Das ist Sydney, die  lisekundentakt, vor Frank O. Gehrys DZ-Bank, vor James Sterlings britischer-, vor Charles
            Stadt „mit dem Opernhaus“. Und auch wir machten unser Foto. Vor ein paar Tagen,  Moores US- und Christian de Portzamparcs französischer Botschaft am selben Platz ge-
            lange nach der Reise nach Australien, stieg ich, „unplanmäßig“, wie man so sagt, am  genüber gemeinhin niemand. Zaghaft dachte ich, vielleicht kämen noch die Allianz-
            Hauptbahnhof in Berlin aus. Ich hätte umsteigen müssen, aber ich ließ den Zug fahren.  Arena in München oder die Elbphilharmonie in Hamburg hinzu oder Fosters Reichstags-
            Und selbst den nächsten. Denn ich drückte mich vor der Fahrt. Private Dinge waren am  kuppel, gar nicht weit vom Bahnhof entfernt, aber von den eng stehenden Neubauten
            Zielort zu regeln, ein Umzug stand an, das Leerräumen eines Hauses, ein Krankenhaus-  des „urbanen Quartiers“ aus der Sicht gedrängt. Der Wind peitschte hart durch die
            besuch. Dinge, vor denen man sich gerne drückt. Ich trat hinaus auf den Platz vor dem  schmalen, menschenleeren, von Autos und Parkuhren gesäumten Straßen des Viertels
            Bahnhof, wo ich nie zuvor war, obwohl man dort das Kanzleramt erspähen kann und  „voller urbaner Vitalität“, leise hörte ich mich murmeln: „Wenn hier Utzons Oper
            die Reichstagskuppel. Dort sei ein neues Stadtquartier gebaut worden, „voller urbaner  stünde, wäre mehr los …“ und nach einer Pause „Ihr Architekten … nur Mut!“ Die vom
            Vitalität“, wie es eine Anzeige für die Grundstücke beworben hatte. Ich suchte das  Bahnhof herüberwehende Lautsprecherstimme erinnerte mich an meine Zugfahrt. In
            „Quartier“ und fand es nicht. Weil ich schon mittendrin war. Und die „vitale „urbane Vi-  großer Kurve nahm der ICE die Strecke, Regen prasselte gegen die Schreiben, das Stadt-
            talität“ nicht bemerkt hatte. Öffentliche Bauten fehlten. Kein Museum, keine Bibliothek,  bild verwischte. Müde drückte ich mich in den Sitz, fror, dachte an das Kommende. An
            kein Theater, keine Schule, kein Schwimmbad, keine Oper. Aber das wäre zu verkraften  Umzug und Auszug und Abschied. Und sagte es leise nun zu mir selbst: „Nur Mut.“

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