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Dr. Dietrich Heißenbüttel
1956 geboren in Hamburg 1975-77 Architekturstudium in Berlin 1980-
83 Ausbildung zum Tischler 1987 Kunstgeschichtsstudium in Stuttgart
2000 Promotion in Halle seit 1999 vorwiegend als Journalist tätig
Gästezimmer: klein und schlicht, aber mit Ausblick. • Guestrooms: small and simple, but with a view. Aus den Original-Zimmertüren wurde die Garderobe. • The original room doors became the cloak room.
von • by Dr. Dietrich Heißenbüttel
W abgewandten Seite verlassen und gelangt dann in einem zehnminütigen Fuß- Luft und Sonne: Dies war Schnecks Motto, schon bei seinem eigenen Haus in der
er mit der Bahn angereist kommt, muss den Bahnhof Bad Urach auf der orts-
Stuttgarter Weißenhofsiedlung, nur ein paar Schritte entfernt von der damaligen
weg über die „Himmelsleiter“, eine schmale, rustikale Waldtreppe, zu dem weiß ver- Kunstgewerbeschule, an der er als Professor für Möbelbau unterrichtete. Schneck
putzten modernen Bau. Wer mit dem Auto anreist, fährt dagegen auf der Bundes- hatte im elterlichen Betrieb Sattler und Tapezierer gelernt, dann den Betrieb über-
straße 465 wieder aus dem Ort hinaus und erreicht dann in einem Bogen auf der nommen und zugleich ein Studium an der Kunstgewerbeschule in Stuttgart ange-
Rückseite den langen, viergeschossigen Gästetrakt. „Haus auf der Alb“ steht an hängt. Später ging er an die Technische Hochschule zu Paul Bonatz, über dessen
einem abgewinkelten Bauteil, das wirkt wie ein Turm, auch wenn es sich nur um Stuttgarter Hauptbahnhof er 1919 seine Abschlussarbeit anfertigte. Damals hatte es
eine Aussichtsterrasse über den Apartment-Flügel erhebt. Dass sich Urach seit 1983 bereits einen ersten Wettbewerb zum Haus auf der Alb gegeben. Der Siegerentwurf
Bad nennt, ist letztlich dem als Kaufmannserholungsheim errichteten Bau zu verdan- von Martin Elsaesser kam jedoch aus wirtschaftlichen Gründen nicht zur Ausfüh-
ken, das seit eben jenem Jahr auch unter Denkmalschutz steht. Denn erst mit dem rung. Zwischen beiden liegen Welten, aber keine ideologischen Gräben. Elsaesser,
Heim, in dem kaufmännische Angestellte einen kostengünstigen Jahresurlaub ver- damals außerplanmäßiger Professor an der Technischen Hochschule, vorher Bonatz‘
bringen konnten, wurde Urach zum Kurort. Die abgelegene Position trug dazu bei, Assistent, baute Ende der 1920er-Jahre im „Neuen Frankfurt“ nicht weniger modern
dass der größte Bau der klassischen Moderne im ländlichen Württemberg weitge- als Schneck. Es war die Weißenhofsiedlung, ein Jahr vor dem zweiten Wettbewerb,
hend von Angriffen der Nazis verschont blieb, die den Bau wie er war als Kraft-durch- die das Bild der weiß verputzten Moderne geprägt hat. Schneck verdankte ihr seinen
Freude-Heim weiter nutzten. Nach dem Krieg zunächst Tuberkuloseklinik, dann wie- Durchbruch als Architekt.
der Erholungsheim, diente er schließlich als Akademie für Transzendentale Medita-
tion des Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi und beherbergt seit 1992 ein Tagungs- Vom Gebäude bis zum Stuhl – alles Entwürfe von Adolf G. Schneck
zentrum der Landeszentrale für politische Bildung.
„Die Enge unseres Tales wird die Stadt immer erheblich in ihrer Entwicklung hem-
Erholung für alle und in bester Lage in klassischer Moderne men“, gab der Uracher Bürgermeister Friedrich Gerstenmmaier 1930 bei der Eröff-
nung des Hauses zu bedenken. „Dagegen hat uns die Natur eine prächtige Land-
Die abgelegene Position hat ihren Grund. Bereits 1916 hatte die Deutsche Gesell- schaft geschenkt, in der sich Herz und Gemüt trefflich erholen kann.“ Die Erholung
schaft für Kaufmannserholungsheime (DGK) derjenigen württembergischen Ge- stand auch für Schneck im Mittelpunkt: „Männer und Frauen der Arbeit sollen sich
meinde den Bau eines Heims versprochen, die ihr ein Grundstück kostenlos zur Ver- hier einmal wohlfühlen und die sozialen Unterschiede vergessen können“, meinte
fügung stellen würde. Unter 45 Kommunen erhielt Urach den Zuschlag, mit einem er. „Deswegen dachte ich zuerst daran, dass jedes Zimmer gleichwertig sein müsste.
Areal, das die Stadt nicht viel kostete, aber einen traumhaften Blick auf die Schwä- Alle nach der besten Richtung und Lage (südöstlich) der Sonne und dem weiten Tale
bische Alb und das Ermstal bot. Diesen Blick in der sonnigen Südrichtung machte zu.“ Mit hellen, freundlichen Zimmern wollte er erreichen, dass jeder Feriengast
Adolf Gustav Schneck zum Ausgangspunkt seines Entwurfs. Jedes der relativ sparta- „vom eigenen Zimmer aus in frischer Luft und heilwirkender Sonne baden könnte.“
nischen, kleinen Apartments blickt in Südostrichtung und öffnet sich zu einem lan- Was heute als Modernität wahrgenommen wird, war freilich auch den knappen Res-
gen, durchgehenden Balkon. Auf den Turm mit der Aussichtsterrasse folgt ein rück- sourcen geschuldet. 3,60 Mark kostete der Urlaub am Tag. Die Einrichtung der Gä-
seitig zwei-, vorn dreigeschossiger Bürotrakt, dem wiederum ein flaches Quadrat mit stezimmer, von Schneck selbst entworfen, ist betont schlicht. Kurz zuvor hatte er
den Gemeinschaftsräumen und einer exakt nach Süden ausgerichteten, breiten Son- unter dem Titel „Die billige Wohnung“ ein Typenmöbelprogramm für die Deutschen
nenterrasse vorgelagert ist. Dazu kam ursprünglich noch ein Schwimmbad. Licht, Werkstätten in Hellerau entworfen. Möbel wie sein „Tübinger Stuhl“ waren hand-
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