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AURAY
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Heidehof Leer bei Burgsteinfurt nach 1920 • Heidehof Leer near Burgsteinfurt after 1920
Element der Naturerfahrung hinzu. Das Pferd als Distinktionsmittel des Adels hatte
Victoria zu Bentheim schon früh durch das des Automobils ersetzt. Wirtschaft liche Not
hatte sie nie gelitten. Bedauerlicherweise sind von Victoria zu Bent heim so gut wie keine
Briefe und Aufzeichnungen erhalten, die einen näheren biografischen Zugang zu ihrer
Person erlauben würden. Es gibt lediglich vereinzelte Hinweise, dass sie ein Frauen -
netzwerk unterhielt und eine Zahl von Freundinnen hatte. So gehörte auch der Vater län -
dische Frauenverein zu ihren Klienten. Eine gewisse soziale Funktion scheint auch die Viel -
zahl von Schlafzimmern im Obergeschoss ihres Hauses in Mittenwald gehabt zu ha ben,
die an Dauer- sowie Saisongäste vermietet wurden und auch hin und wieder Befreun -
deten unentgeltlich überlassen wurden. Von einer signifikanten Person in ihrem Leben ist
nichts bekannt. Über die politische Haltung von Victoria zu Bentheim und Steinfurt gibt
die Akte der Spruchkammer Auskunft. Danach ist Victoria zu Bentheim und Steinfurt 1933
in die NSDAP eingetreten. Als Parteimitglied hat sie sich aber offensichtlich nicht aktiv
betätigt und wurde dafür 1941 vom Ortsgruppenleiter der NSDAP Garmisch-Partenkirchen
schriftlich gerügt. Victoria zu Bentheim hat sich selbst in Gefahr gebracht, als sie im selben
Jahr nach dem Verbot der anthroposophisch orientierten Christengemeinschaft deren Kult -
geräte, Messgewänder und Bücher in ihrem Haus versteckt hat.
Doppeltes Missverständnis zwischen Adel und Nationalsozialismus
Schließlich hat Victoria zu Bentheim ihr Leben aufs Spiel gesetzt, als sie im Dezember 1943
die Jüdin Eva Gutt mann und deren Tochter Steffi fünf Monate in ihrem Haus in Mittenwald
versteckt und im April 1944 mit der Mutter auf den Schweizerhof bei Gaildorf geflüchtet
ist, wo sie auch die aus dem KZ entkommene Frida Mühlhausen unterbrachte und ihr fal-
sche Papiere besorgte. Offensichtlich begegnen wir hier dem typischen „doppelten Miss -
ver ständnis“ zwischen Adel und Nationalsozialismus: Der Nationalsozialismus wollte den
Adel längst nicht in dem von diesem erwarteten Maße an der politischen Macht beteili-
gen, und der Adel, der es gewohnt war, auf seinen Gütern den Ton anzugeben, wollte sich
wiederum dem Nationalsozialismus oft nicht in dem von diesem erwarteten Maße fügen.
Man wird auch das architektonische Werk von Victoria zu Bentheim vor dem Hintergrund
ihrer Sozialisa tion als Adlige einordnen müssen. Es zeigt, dass sie sich auf dem Territorium
ihrer Familie sowohl als berufstätige Frau und als Adlige voll entfalten konnte – befreit von
den allgemeinen Vorbehalten und Einschränkungen der Zeit gegenüber Architektinnen.
Ihre Arbeit hat dort Bauten hervorgebracht, die so wirken, als hätten sie schon immer an
ihrem Ort gestanden, und man merkt ihnen an, dass sie mit besonderer Zuwendung und
großer Sorg falt hervorgebracht wurden. Bei näherem Hinsehen erweist sich, dass die
architektonische Konzeption nicht – wie früher auf dem flachen Lande üblich – auf einen
lokalen Handwerksmeister zurückgeht, sondern von einer am Studium und Entwurf gro-
ßer Sakral- und Profanbauten geschulten Architektin stammt, die hinsichtlich Talent,
Expertise und Schaffenskraft ihr berufliches Territorium souverän beherrschte.
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