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SERIEN FRAU ARCHITEKT • MS. ARCHITECT
Entwurfszeichung Schweizerhof bei Gaildorf (1920) • Design drawing Schweizerhof near Gaildorf (1920)
Schweizerhof bei Gaildorf nach 1920 • Schweizerhof near Gaildorf after 1920
„Die architektonische Formensprache
entspricht jeweils der regionalen Tradition.“ gischen Terri torium gelegenen Gutshof Völk lens wald das quergeteilte Einhaus und zuletzt
bei dem Siedlungshof in der Nähe des oberbay rischen Mittenwald der Mittelflur- und
Tennentyp erscheinen. Nur die hölzernen Schup pen und Ställe haben mit ihren äußerst
schlichten Formen und der jeweils senkrecht angeordneten Bretterschalung eine – auch
Architektenverein zu Berlin und wurde dort einen Monat später aufgenommen. In Anbe - wiederum typische – regional unbestimmte Gestalt. Die beiden im Werk von Victoria zu
tracht der ökonomischen Misere nach Kriegsende war an eine Anstellung in einem Archi - Bentheim besonderen und daher typologisch etwas aus dem Rahmen fallenden Gutshöfe
tekturbüro in Berlin, insbesondere für eine Frau, nicht zu denken. Wahrscheinlich kehrte wurden ab 1920 geplant. Bei dem Ersteren handelt es sich um den Heidehof in Leer bei
sie deshalb 1919 nach Burgsteinfurt zurück. Wie viele Adlige reagierten auch die Fürsten Burg stein furt. Bauherr war der vermögende Tabakfabrikant Rotmann aus Burgsteinfurt.
zu Bentheim und Steinfurt nach dem Ersten Weltkrieg auf den erheblichen Verlust an Der ver gleichsweise große Wohntrakt und der für die Bauernhäuser der Grafschaft unge-
Vermögen und Status, indem sie ihre Ressourcen verbesserten. Zunächst ist das promi- wöhnlich reiche Bau schmuck sowie insbesondere die Ausbildung eines Schaugiebels mit
nent zwischen dem Schloss Burgsteinfurt und dem anschließenden Lustgarten gebaute Loggien weisen auf den Charakter dieses Guts hofes als Zurschaustellung von Reichtum
Krieger denkmal zu nennen: Im Schnittpunkt zweier Achsen gelegen, mit dem Block als und Nutzung als Freizeitvergnügen. Der im württembergischen Teil des Fürstlich Bent -
Unter bau und dem Obelisken mit einer (Opfer-)Schale auf der Spitze, bildete es für das heim schen Terri tori ums bei Gaildorf gelegene Schweizerhof zeigt ebenfalls das Motiv des
Schaffen der jungen Architektin einen würdigen Auftakt. In Schloss Burgsteinfurt wurde für Schau giebels mit Loggien, allerdings an dem vorderen Risalit auf den beiden Längsseiten.
Victoria zu Bentheim das Fürstlich Bentheimsche Bauamt eingerichtet. Bei diesem Gebäude handelt es sich um den Umbau und die Erweiterung eines bestehen-
den Bauern hofes. Victoria zu Bentheim gelang es hier, einen integrierten Baukörper mit
Vom Entwurf bis zur Bauabnahme kam alles aus einer Hand einem neuen architektonischen Ausdruck zu schaffen. Der Gutshof war das Lieblings pro -
jekt der Archi tektin. Dort war für die fürstliche Familie im zweiten Oberge schoss eine
Anhand der offensichtlich fast vollständig erhaltenen Pläne und vereinzelter Schriftstücke, Sommer- beziehungsweise Ferienwohnung eingerichtet worden. Die beiden ab 1923 ent-
die alle die gleiche Handschrift tragen und in den meisten Fällen auch entsprechend standenen großen Gutshöfe waren Völklens wald bei Gaildorf und der Adolfs hof bei
signiert sind, darf davon ausgegangen werden, dass die Architektin Vorsteherin und Burgsteinfurt. Beide zeigen eine T-förmige Anlage, geteilt in einen Wohn- und einen Wirt -
zugleich einzige Mit arbeiterin dieses Amtes war. Vom Entwurf über die Detaillierung und schaftstrakt. Beide Ge bäu de haben über dem massiven Erdgeschoss ein mit einer Holz -
Ausschreibung bis zur Bauleitung und Bauabnahme kam alles aus einer Hand. schalung verblendetes schlichtes Fachwerk. Mit diesen beiden Projekten war die Zeit der
Akquisition war also kein dringendes Thema. Honorarfragen konnten am Ess tisch geregelt Neubauten von großen Gutshäusern und Siedler höfen im Fürstlich Bentheimschen
werden. Und das Terri torium der Familie war ein von den zeitgenössischen Vorurteilen Bauamt vorbei. Das ab 1932 im Auftrag des Vater län dischen Frauen vereins gebaute
gegenüber einer Archi tek tin und von Benachteiligungen befreites Gebiet. Zum Spektrum Evangelische Damenstift in Burg steinfurt stellt als Neubau in der Zeit eine Ausnahme dar.
der Aufgaben des Fürst lich Bentheimschen Bauamts gehörten Neu bauten, aber auch viele
An-, Um- und Ein bau ten, Aufstockungen, Fachwerk frei legun gen, Restau rierun gen sowie Karriere als Privatarchitektin von kurzer Dauer
Landschafts planung, ferner die Gestaltung von Grabmälern, Mö beln, Besteck, Schrift -
zügen, Wappen. Hinzu kamen hin und wieder Bau auf gaben, die von außerhalb der fürst- 1935 machte Victoria zu Bentheim noch einmal einen großen Schritt in ihrem Leben,
lichen Familie an sie herangetragen wurden. Vor allem zu Beginn ihrer Tätigkeit in Burg - indem sie sich sowohl räumlich als auch beruflich von ihrer Familie löste und nach
stein furt um 1920 muss Victoria zu Bentheim Tag und Nacht gearbeitet haben. Aber auch Mitten wald zog. Dort hat sie wohl hauptsächlich für Klienten aus der Umgebung als Privat -
in den Jahren danach beeindruckt die große Zahl der jährlich bearbeiteten Projekte. Die architektin gearbeitet, mit im Durchschnitt etwa ein bis drei Projekten im Jahr. Die meisten
meisten Ent würfe betreffen das landwirtschaftliche Bauen. Es erstreckt sich auf die 1920er- der entsprechenden Entwürfe zeigen eine oberbayrische Formensprache. Das Freibad und
und frühen 1930er-Jahre und reicht von großen Guts höfen über Siedlerhöfe und Sied lungs - die Berghütte aus demselben Jahr sind dagegen überregional schlicht. Jedoch sind von
häuser zu Scheunen, Schuppen und Tier ställen bis hin zur Pflanzung kleiner Haine zur den Entwürfen aus der Zeit in Mittenwald wahrscheinlich nur relativ wenige umgesetzt
Beschattung von Tieren auf der Weide. Die architektonische Formensprache entspricht wor den. Mit dem Erwerb ihres Wohnhauses 1937 scheint die Tätigkeit von Victoria zu
jeweils der lokalen Tradition. Das bedeutet, dass der bei Bentheim gelegene Adolfshof Bentheim als Architektin weitgehend ihren Abschluss erreicht zu haben. Dafür nimmt das
dem Bautyp des niederdeutschen Hallen hauses angehört, während bei dem ebenfalls im Reisen, vor allem nach Österreich, in die Schweiz und nach Italien, eine wichtige Stellung
Familienbesitz befindlichen, im Norden Würt tem bergs bei Gaildorf im bentheim-limpur- in ihrem Leben ein. Mit dem Wandern und Klettern kommt noch ein dezidiert bürgerliches
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