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REDINGS ESSAY
                                              KENNEN SIE




                                         PER KIRKEBY?





                                                             Ein Essay von Dominik Reding



            A   rchitektur ist die schönste Kunst, weil sie so sozial ist!“ „Wieso?“ „Na, weil sie alle  lächelte Herr Döring und wandte sich an seine Assistentin. „Sehen Sie, den kann man
                                                                          doch kennen!“ Ich bekam den Job. Alle 13000 Bücher der Bauko-Bibliothek mussten neu
                Menschen vor dem Regen schützt, vor Kälte und Sturm. Das kann keine andere
            Kunst.“ Vera nickte. Nicht sehr überzeugt. „Jedes Dach hilft, jede Wand, letztlich ganz egal,  nummeriert werden. Handschriftlich. Lange, stille Abende. Da kam, nach ein paar Wo-
            wie sie aussieht“. Vera nickte wieder, wieder nicht überzeugt. Aber der Wind wehte warm,  chen, Herr Döring über die enge Wendeltreppe herunter, blätterte durch die aktuellen Aus-
            die Sonne schien, ich konnte meine These nicht gut anschaulich machen. „Der Döring soll  gaben der „Domus“, der „Architectural Review“, der „AIT“, schnell, fast eilig, murmelte
            verdammt anstrengend sein.“ „Kerkeling?“, murmelte ich. Was hatte der mit der Eröff-  ab und an, halb zu mir, halb zu sich selbst, „Das Haus ist gut“ oder „Macht der sowas
            nungsrede für die Architekturstudenten des ersten Semesters zu tun? „Professor Wolfgang  immer noch?“, und dann: „Haben Sie Lust, in meinem Büro zu arbeiten? Jetzt, in den Se-
            Döring. Der hat den wichtigen Baukonstruktionslehrstuhl. Das ist so ein genauer, stren-  mesterferien? Wir machen einen Wettbewerb – Museumsbau.“ Vera riet natürlich ab. „Der
            ger…“, sie zögerte „…pingeliger Muffelkopp. Und postmodern ist der auch noch.“ Wolf-  gewinnt nicht, Postmoderne ist vorbei. Das bringt dir nichts im Lebenslauf.“ „Erste Runde
            gang Döring? Ich hatte den Namen noch nie gehört. Sie schaute mich erschrocken an.  raus oder erster Preis, alles andere ist Scheiße“. Dörings ruppige Stimme hallte durch das
            „Jetzt sag nicht, du weißt noch gar nicht, wer uns die nächsten Jahre unterrichten wird?“  kleine Büro, gutgelaunt und angriffslustig. Er zeichnete mitten zwischen uns, nicht hinter
            Sie bleib stehen. „Das muss man doch vorher wissen, wer wie drauf ist. Die Tricks und  dicken Türen in „Chefzimmern“ separiert, und für das Museum hatte er etwas Gläsernes,
            Ticks der Profs. Sonst studierst du hier noch 20 Semester rum…“ Meine Mitstudentin Vera  dezent Gebogenes, mit haushoher LED-Fassade entworfen, gar nicht so postmodern. Das
            wusste Bescheid. Sie war selbst Tochter eines Architekten. Jetzt erwartete sie mein Bedau-  Kussmundgesicht der Marilyn Monroe prangte als Blickfang darauf, vom begabtesten Bü-
            ern, aber die kleine Unistadt lag vor uns, die Dächer schimmerten im Morgenlicht, ein ei-  romitarbeiter mit ein paar sicheren Strichen auf die LED-Fassade gezaubert. „Das hätte ja
            genes Zimmer hatte ich, bei einem emeritierten Professor im Hinterhaus. Ich konnte leid-  der Warhol nicht besser hinbekommen!“ Döring staunte, lobte, ehrlich begeistert. Und
            lich zeichnen und entwerfen: Tische, Stühle, Wohnhäuser, sogar Theater, Kaufhäuser und  dann: “Für heute machen wir Schluss.“ Wie? Büroschluss mitten im Wettbewerb um 17
            Industrieanlagen – mit ein paar Bleistiftstrichen. Ein Architekturstudium? Das konnte so  Uhr? In anderen Büros hatte ich in der Abgabephase nächtliche Mitarbeiter-Zusammen-
            schwer nicht werden! Der Hörsaal war dicht besetzt, summte vor junger Unruhe. Durch  brüche mit Notarzteinsatz erlebt. „Nachtarbeit ist nur schlechte Bürologistik!“ Überhaupt,
            eine niedrige Seitentür trat ein kleiner Mann im schwarzen Anzug, kurzen, schwarzen Haa-  seine Sätze blieben hängen: „Wer nicht baut, ist kein Architekt“, oder zu mir, einmal doch
            ren und einem runden, etwas zerknautschten Gesicht und einer                   nach 17 Uhr: „Betreiben Sie nie zwei Büros gleichzeitig. Da weiß
            kreisrunden, schwarzen Hornbrille an das Rednerpult.  „Ich bin                 das eine Büro nicht, was das andere macht. Dann gehen Sie
            Wolfgang Döring, Ihr Bauko-Professor.“ Dann sprach er, natür-                  pleite. Wie ich mit meinem Büro in Mailand.“ Er sagte es leise,
            lich, über die Kunst der Architektur, die Lippen so nah am Mi-                 traurig, wie ein alter Kapitän, der das Gefühl kennt, wenn ein ge-
            krophon, dass jedes Schlucken, Räuspern, Hüsteln zum akusti-                   liebtes Schiff verloren geht. Und er blätterte dabei, gedanken-
            schen Drama geriet, aber nur den letzten Satz weiß ich bis                     schwer, durch ein dickes Buch, eine Werkmonographie, frisch er-
            heute: „Und dem Diplom können Sie hier ja nur durch Selbst-                    schienen, „Wolfgang Döring. Architekt“ hieß es. „Das ist auch
            mord entgehen.“ Gerieten die Bauko-Übungen streng und un- Abb.: Wolfgang Döring-Archiv, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt am Main  weg, gestohlen, steht jetzt wahrscheinlich in einer Kellerbar… als
            vermeidlich wie Czernys Etüden im Klavierunterricht, umso psy-                 Aschenbecher“. Abgedruckt war das Foto eines Architekturmo-
            chedelisch-zerfließender  die  Vorlesungen.  Der  Diaprojektor                  dells. Sein Entwurf eines Experimentaltheaters von 1963. Ein un-
            summte, die Fensterverdunklung waren tief heruntergefahren,                    glaubliches Modell, ein noch unglaublicheres Gebäude: Eine
            das Licht schimmerte gelblich am Rand der schwarzen Marki-                     rote Schale, die Ecken abgerundet wie ein Stück Seife, in der, wie
            sen. Bilder von Ziegeln huschten über die Leinwand, von Dä-                    die Nuss in der Schale, eine silbrige, zweite Hülle ruhte, in der
            chern, Wänden und Mauern. Hier traf mich jäh die Einsicht,                     wiederum, wie die Perle in der Auster, ein kreisrundes Audito-
            dass eine Wand nicht nur aus dem schwungvollen Strich eines                    rium lagerte, die Sitze in Silber, der Boden in kräftigem Rot ge-
            5B-Bleistiftes, sondern aus Ziegeln im Kreuzverband oder Blockverband, aus märkischem  halten. Selbst heute könnte er damit noch Wettbewerbe gewinnen. Eine mutige Jury vor-
            oder gar wildem Verband bestehen, dass Dächer nicht einfach nur Dächer sind, sondern  ausgesetzt. Der Museumwettbewerb ging, wie von Vera prophezeit, verloren. Weder erste
            Sparrendächer, Kehlbalkendächer, Pultdächer … Man geriet in einen schwermütigen Däm-  Runde, noch erster Preis. „Schade um die sinnlos vertane Zeit.“ Vera betrachtete mich mit
            mer… „Und das hier sind zwei Flachdächer, eines aus Holz und eines aus Stahlbeton.“  hohnvollem Bedauern. „Vera, es ist verdammt unwichtig, ob man 100 oder 200 oder 1000
            Was waren das für Häuser? Dörings Stimme knarrte: „Haus Wabbel und Haus Mayer-Kuk-  Häuser gebaut hat, wenn es auch nur eins gibt, an das man sich noch in 100 Jahren erin-
            kuk“. Im Hörsaal erschall Gelächter. Er bleib ernst. „So heißt die Bauherrschaft. Sehr eh-  nert! Und davon hat der Döring gleich drei entworfen!“ Herrn Döring sah ich persönlich
            renwerte Leute.“ Gerne hätten wir gerufen: Haben Sie nicht noch mehr Häuser wie diese  nie wieder. Nur im Fernsehen begegnete er mir, Jahre später, in einem Interview. Er lä-
            in Ihrem Programm? 1960er-Jahre Space-Age-Träume aus Stahlträgern, Pop-Farben und  chelte jetzt mehr, wirkte entspannter als zu seinen Professorenzeiten. Und noch Jahre spä-
            souverän beherrschter Geometrie? Aber niemand traute sich, und er war mit den Dias  ter erst erfuhr ich, dass Döring bei Eiermann studiert und bei Schneider-Esleben gearbeitet
            schon bei seinem nächsten, ganz postmodernen Projekt.         hatte, dass er die Künstler der rheinischen ZERO-Gruppe sammelte und natürlich auch
            „Kennen Sie Per Kirkeby?“ Professor Döring betrachtete mich durch seine dicken Hornbril-  mit Per Kirkeby bekannt war und seine strengen Backsteinplastiken schätzte. Und ich sah
            lengläser. Ja, wer mochte das sein? Per Kirkeby? Hoch, hell und kühl war der Arbeitsraum  die Häuser Wabbel, Mayer-Kuckuk und das Theatermodell immer wieder, längt waren sie
            im Baukonstruktionslehrstuhl. Angstvoll hockte ich am Ende des langen Tisches, und mir  zu Ikonen der Architekturgeschichte geworden. Vor ein paar Wochen, trotz Corona, kam
            gegenüber, weit weg, saß die Kommission. Die Hilfskraftstelle für die Lehrstuhl-Bibliothek  Vera für ein Bauprojekt nach Berlin. Wir hockten bei mir, tranken Kaffee und ließen alte
            war neu zu vergeben. „Schlimmer Job, nur staubige Bücher und der pingelige Döring“,  Zeiten Revue passieren. „Was wohl der Döring macht?“, fragte sie und googelte seinen
            mahnte Vera. Kirkeby? Hatte ich irgendwo schon mal gehört… Nein, gelesen! In einer  Namen. Dann schaute sie mich an, starr, sagte: „Er ist gestorben am 4. November 2020.“
            Kunstzeitschrift. Er war also wohl ein… „Künstler!“, rief ich. Mehr wusste ich aber über  Danach schwiegen wir, lange, dann hörte ich, ganz leise, ihr Weinen. „So Leute wie ihn,
            diesen Kirkeby nicht. Wenn er mich jetzt fragt, was der macht, bin ich verloren. Plötzlich  die gibt´s nicht mehr, solche Architekten.“ Und ich konnte sie nicht trösten, darum.

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