Page 101 - AIT0321_E-Paper
P. 101

Dr. phil. Gerd Kuhn                      Entwurf • Design Yonder, Stuttgart und SOMAA, Stuttgart
                                                                           Bauherr • Client Private Bauherrengemeinschaft Wolle+       Foto: Uwe Ditz
                                                                           Standort • Location Werkstraße 6, 72074 Tübingen
                                  Wohnsoziologe und Stadtforscher in Tübingen, www.urbi-et.de. Diverse  Nutzfläche • Floor space: 1.130 m 2
                                                                                                                                       Foto: Patricia Neligan
                                  Forschungsprojekte. Mitglied in Jurys und im Gestaltungsbeirat der Stadt  Fotos • Photos Brigida González, Stuttgart
                                  Speyer. Aufsichtsratsvorsitzender Bau- und Heimstättenverein Stuttgart eG.  Mehr Infos auf Seite • More infos on page 126








































             Wenige, wertige Materialien und klar strukturierte Bereiche ... • Few materials and clearly structured ...  ... schaffen räumliche Qualitäten für alle Beteiligten. • ... areas create spatial qualities for all participants.




             tete als auch für Menschen mit begrenztem Einkommen und der Bildung integrativer  Adaptives und vielfältiges Wohnen für traumatisierte Menschen
             Orte . Zur raschen Unterbringung von Geflüchteten mussten auch in der Universitäts-
                3
             stadt Tübingen zunächst Containerquartiere geschaffen werden. Die Stadt agierte aber  Geflüchtete sind häufig auch traumatisierte Menschen. Sie benötigen deshalb zunächst
             mehrgleisig. Neben den schnell errichteten Container-Behausungen wurden acht Stand-  einen sicheren Ort. Jeder Wohnung wird ein großzügiger, individuell nutzbarer Außen-
             orte im Stadtgebiet ausgewiesen, auf denen qualitätsvoller Wohnraum zunächst für Ge-  bereich (Terrasse oder Balkon) zugewiesen. Einblicke in die Wohnungen werden durch
             flüchtete entstehen sollte. Diese Gebäude waren nicht als temporäre Schlichtwohnun-  weiße Lochbleche erschwert, die als Brüstung die mehr als zwei Meter tiefen Balkone
             gen konzipiert, sondern für die Nutzung in unterschiedlichen Nutzungszyklen gedacht.  umschließen. Da die Geflüchteten aus sehr unterschiedlichen Kulturen kommen und
             Statt einer Direktvergabe der Grundstücke wählte man das in Tübingen im Regelfall an-  ihre Familienstrukturen sehr vielfältig sind, mussten unterschiedliche Wohnungstypen
             gewandte konkurrierende Konzeptverfahren. Baugruppen und Inverstoren konnten sich  entwickelt werden. Das Portfolio reicht von zwei kleinen, drei mittleren und zwei gro-
             für die Grundstücke bewerben. Die Stadt erhoffte, dass so attraktiver Wohnraum für Ge-  ßen Wohnungen sowie drei Mikroapartments für ehemals unbegleitete minderjährige
             flüchtete entsteht und auch kreative Integrationskonzepte entwickelt werden.  Geflüchtete, die sich jetzt in einer Berufsqualifikation befinden. In den Wohnungen
                                                                           schwankt die Belegung von einer Person bis zu Familien mit zehn Mitgliedern. Im Haus
             Bauen am Neckar – Bauen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren  am Park befinden sich im Obergeschoss drei von den Eigentümern bereits selber ge-
                                                                           nutzte Apartments mit eigener Dachterrasse. Die Flüchtlingswohnungen verfügen über
             Unter den acht ausgewiesenen Standorten befanden sich zwei attraktive Grundstücke  eine technische Basisausstattung. Bei der Qualität des Innenausbaus mit Parkettböden,
             direkt am Neckar. Für diese zuvor als Werkhofareal der Stadtwerke genutzten Flächen  bodentiefen Fenstern oder der Oberflächenbehandlung aus Sichtbeton und weißem Si-
             bewarben sich 40 Gruppen. Den Zuschlag erhielten die Postbau eG, die zusicherte,  likatanstrich wurde nicht zwischen Flüchtlingswohnungen und Eigentumswohnungen
             Wohnungen zu dauerhaft niedrigen Mieten zu bauen, und die Baugemeinschaft Wolle+,  unterschieden, und man folgt damit dem egalitären Gestaltungsprinzip einer wertigen
             die ein fundiertes Sozial- und Wohnkonzept vorlegte. Die Option zum Erwerb des  sowie gleichwertigen Ausstattung für alle. Ein wesentliches Merkmal dieser Wohnun-
             Grundstückes wurde 2016 erteilt. Zur Realisierung des Wohn- und Integrationsprojekts  gen ist ihre Adaptivität. Im Haus am Park mussten die Wohnungen zunächst den Richt-
             am Neckar schlossen sich dreizehn Baufrauen und Bauherren zur Baugemeinschaft  linien für Flüchtlingswohnungen entsprechen. Die Architekten entwickelten daher ver-
             Wolle+ zusammen. Neben Einzelpersonen und Familien ist auch die gemeinwohlorien-  änderbare Grundrisse. Denn viele Baufrauen beziehungsweise Bauherren wollen ihre
             tierte kit Jugendhilfe (ehemals Martin-Bonhoeffer-Häuser) Mitglied. Zwei Teams aus ins-  Wohnungen nach einer 10- oder 15-jährigen Nutzungsphase als Flüchtlingswohnung
             gesamt drei Architekturbüros planten in enger Kooperation je ein Gebäude für die Bau-  selbst bewohnen. Es musste also eine Wandlungsfähigkeit wie beispielsweise der
             gemeinschaft: Das Haus am Park, entworfen von den Stuttgarter Architekturbüros Yon-  Umbau zweier kleiner Nasszellen zu einem großzügigen Bad oder die Zusammenlegung
             der und SOMAA, und das Brückenhaus von Maier + Wezel Architekten aus Tübingen.  kleiner Räume mitgeplant werden. Im Brückenhaus befindet sich im Obergeschoss

                                                                                                                            AIT 3.2021  •  101
   96   97   98   99   100   101   102   103   104   105   106