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Abbildungen aus: Delineations of Fonthill and its Abbey by John Rutter, 1823

















                Gäbe es nicht die unzähligen Stiche und zeitgenössischen Baubeschreibungen, die glaubhaft von ...


                Beckford bereits in jungen Jahren der Durchbruch als Schriftsteller. Als sein Hauptwerk
                gilt der Roman „Vathek“, geschrieben mit 21 Jahren, der Legende nach in nur drei
                Tagen, wie im Rausch, halb Schauermärchen, halb faustische Tra gödie, angesiedelt im
                Orient und in seiner ganzen Stimmung verwandt mit den magi schen Er zäh lungen aus
                „Tausendundeiner Nacht“, die damals überall in Europa in Mode waren. Lord Byron,
                Edgar Allen Poe und noch Jorge Luis Borges ließen sich spä ter von Beck fords Erzählung
                inspirieren. Die  Literaturwissenschaften sprechen heute  von einem Frühwerk der
                Schwarzen Romantik, einer klassischen Gothic Novel, dem Vorläufer der modernen
                Horrorliteratur. Doch zurück auf die Great Western Avenue, den letzten Teil unserer
                Reise, die nun nach einem Kilometer mitten im Wald abrupt in einer weiten Lichtung
                endet. Hier muss er gestanden haben: Beckfords legendärer Palast, seine Kathedrale,
                sein persönlicher Turmbau zu Babel.                           ... ihrer Existenz zeugten, man könnte Fonthill Abbey für eine reine Erfindung der Geschichte halten.

                Die überspannte Illusion einer einsamen gotischen Abtei
                                                                              decke überfangene Galerie zu Ehren König Edwards öffnete. Sie führte einst in die als
                Kaum vorstellbar ist es heute, dass hier, in the middle of nowhere, einst ein giganti scher  Sanctuary und Oratory bezeichneten äußersten Räume des Nordflügels, die zusammen
                Baukomplex mit seiner höchsten Spitze 90 Meter in den Himmel hochragte. Gäbe es  mit dem sich seitlich anschließenden Treppenhausturm das oben beschriebene, noch
                nicht die Gemälde von William Turner, dem großen englischen Land schaftsmaler, die  heu te erhaltene Relikt von Fonthill Abbey bilden. Der vierte, nach Westen gerichtete
                unzähligen Stichwerke und zeitgenössischen Baubeschreibungen, die glaubhaft  von  Kreuzarm wiederum diente allein der Inszenierung des Ankommens. Nachdem der
                ihrer Existenz zeugten, wir hielten Fonthill Abbey, wie Beckford sein groteskes Zuhause  Besucher ein mehr als zehn Meter hohes Portal durchschritten hatte, öffnete sich vor
                nannte, für eine reine Erfindung der Geschichte. Am Ort selbst jedenfalls finden sich  ihm ein einziger hoher und weiter Kathedralraum, die Great Western Hall, an deren
                kaum noch Spuren davon: ein kleiner, quadratischer Turm, daran angesetzt ein kurzes  Ende eine breite Treppe in das zentrale  Oktagon  hinaufführte.  Um den Eindruck
                Stück Langhaus mit einem sechseckigen Chorabschluss, daneben der Rest eines Kreuz -  gewaltiger Größe und Höhe noch zu steigern, beschäftigte Beckford einen zwergwüch-
                gangs. Alles macht den Anschein, als könnte es sich um eine verlassene alte Dorfkirche  sigen Diener, dessen einzige Aufgabe es war, Besucher an der schweren Eichen holztür
                handeln, die hier seit dem Mittelalter steht. Vergleicht man den Bau jedoch mit den  des Westflügels zu empfangen.
                Zeichnungen, die uns von Fonthill Abbey überliefert sind, entpuppt sich das romanti -
                sche Gemäuer, das einsam am Rande der weiten Lichtung steht, in Wirklichkeit als ein  Den missgünstigen Blicken der Welt entzogen
                Fragment, als ein letztes erhalten gebliebenes Teilstück von Beckfords bizarrem Land -
                sitz. Niemand Geringerer als James Wyatt, der Star-Architekt seiner Zeit, war für den  Aber nicht nur das Gebäude selbst ließ Beckford nach seinen Vorstellungen von mär -
                ursprünglichen Bau verantwortlich. Im Auftrag von Beckford errichtete er über einem  chenhafter Größe und Prachtentfaltung gestalten, sondern auch die umgebende Land -
                Kreuzgrundriss mit vier annähernd gleich langen Armen die überspannte Illusion einer  schaft hatte sich dem ebenso fantastischen  wie fanatischen Gestaltungswillen des
                einsamen gotischen Abtei im Wald. Wo die vier Kreuzarme aufeinandertrafen, ragte ein  Literaten unterzuordnen. So ließ er etwa einen künstlichen See anlegen und be schäf -
                achteckiger Turm 300 Fuß zum Himmel hinauf. Das untere Drittel seines Schaftes barg  tigte ein Heer von Gärtnern, die sich um die Ansiedlung und Pflege zahlloser exoti -
                mit dem sogenannten  Okta gon  die wohl  eindrucksvollste  Raumschöpfung des  scher Gewächse zu kümmern hatten. Zu guter Letzt umgab der Bauherr sein artifi -
                Architekten. Von mächtigen Pfei lern umstanden, reichte der Raum fast 24 Meter bezie -  zielles Paradies mit einer Mauer – dreieinhalb Meter hoch und insgesamt elf Kilo meter
                hungsweise sechs Geschosse in die Höhe und bildete das Zentrum der gesamten An -  lang –, deren Überreste man noch heute entlang der  Zufahrtsstraße findet. Früher
                lage. Nach Osten lagen die Samm lungsräume. Hier beherbergte Beckford eine der statt -  schirmte sie Beckfords Abtei hermetisch gegen die Außenwelt ab. Nur wenigen Men -
                lichsten privaten Kunst samm lungen, die das englische Königreich jemals besaß. Dazu  schen war der Zutritt gestattet. Vor allem Künstlern wie Turner und Constable öffnete
                kamen kostbare Bücher und zahllose Antiquitäten. Südlich des Oktagons erstreckte sich  Beckford seine Welt; der britische Thronfolger hingegen, der Font hill Abbey dringend
                wiederum eine von einem zarten Fächergewölbe überspannte Galerie, die dem heiligen  zu sehen wünschte, wurde abgewiesen. Überhaupt hielt Beck ford Abstand zu den
                Michael gewidmet war, während sich nach Norden die von einer goldenen Kasset ten -  gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit. Das war nicht immer so: Der junge Beckford konn -


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