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VERKAUF UND PRÄSENTATION  •  RETAIL AND PRESENTATION   THEORIE  •  THEORY


                                                               haptisch ergänzen. Gepaart mit künstlicher Intelligenz können so in realen Situationen neue digitale
                                                               Kontexte hergestellt werden, die sich dynamisch an die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der
                                                               UserInnen anpassen. Auch das britische Studio Above&Below entwickelte mit „Entangled Land-
                                                               scape“ ein audiovisuelles Mixed-Reality-Erlebnis, mit dem das unsichtbare, kollaborative Leben im
                                                               Boden in Form von einer immersiven Datenskulptur visualisiert wird. Dafür wurden zwei neuronale
                                                               Netzwerke auf wechselseitige Interaktion trainiert. Sie sind von Mykorrhizen inspiriert und werden
                                                               mit Live-Umweltdaten aus der Region Südwestflandern gespeist – wobei die BesucherInnen Tablets
                                                               nutzen können, um diese Daten sichtbar zu machen. Die Kombination von physischem Raum und
                                                               digitalen Inhalten ermöglicht außerdem eine größere Flexibilität im Storytelling, in der Kuration
                                                               und natürlich in der Raumnutzung beziehungsweise -gestaltung selbst. Darüber hinaus können
                                                               neue Perspektiven geschaffen werden, die in der physischen Welt allein gar nicht möglich wären.
                                                               So hat beispielsweise das Shanghai Museum of Glass kürzlich einen digitalen Zwilling gelauncht,
                                                               der die physische Ausstellungsfläche von rund 20.000 um 30.000 Quadratmeter ergänzt: Shmog
                                                               Nxt – das fortschrittlichste hyperrealistische Echtzeit-3D-Museum der Welt. Ziel ist es, nicht nur die
                                                               Reichweite zu erhöhen beziehungsweise ein junges, technikaffines und zukunftsorientiertes Publi-
                                                               kum anzusprechen, sondern auch ein erweitertes Museumserlebnis zu schaffen. Über Stationen im
                                                               physischen Museum und VR-Headsets ist die digitale Welt erfahrbar und bietet den BesucherInnen
                                                               einen interaktiven Zugang zu Inhalten und Exponaten. Von Coordination Asia mithilfe von Game-
                                                               Engines und KI-gestützter Programmierung entwickelt, ist so ein vielschichtiges, nichtlineares und
                                                               immersives Extended-Reality-Erlebnis entstanden.

                                                               Real-Time-Data

                                                               Neue Formen der Immersion, Interaktion, Inklusion, des Geschichtenerzählens und neue Zugänge
                                                               sind nicht nur in der physischen Welt spannend, sondern werden zunehmend auch in der virtuel-
           Fotos: Zan Wimberley, Sydney                        der räumlichen Wissensvermittlung: UserInnen können ganzheitlich in die neuen Welten eintau-
                                                               len Welt erlebbar. Datengetriebene Technologien ermöglichen hier neue Chancen und Dimensionen
                                                               chen, die fernab jeglicher Physik und mit ihren jeweils eigenen Geschichten gestaltet sein können
                                                               – und diese direkt beeinflussen. Denn KI-gestützte Meta-Universen lassen sich künftig problemlos

                                                               maßgeschneiderte, hyperpersonalisierte Erlebnisse zu schaffen. Der digital gestaltete Raum kann
           Lozano-Hemmer nutzt generative Technologien, ... • Lozano-Hemmer uses technologies …  auf individuelle Vorlieben zuschneiden und Nutzerdaten mithilfe von Algorithmen analysieren, um
                                                               dann spezifisch angepasst werden, inklusive aller „Materialien“ und Farben, der Gestaltung der
           ... um Sprache sicht- und fühlbar zu machen. • … to make language visible and tangible.   Avatare und der Form der Interaktion. So werden UserInnen zu Echtzeitregisseuren ihrer eigenen
                                                               Geschichten, die sich basierend auf ihrem Input und ihrer Beteiligung entfalten und weiterentwik-
                                                               keln können. Was wäre, wenn sich dieser Mechanismus der Hyperpersonalisierung nun wiederum
                                                               auf den realen Raum übertragen ließe? Wenn sich kinetische Räume und Rauminszenierungen den
                                                               Wünschen der BesucherInnen anpassen? Und sich dabei nicht nur Raumtemperatur, Licht, Sound
                                                               und Haptik dynamisch verändern, sondern sich der gesamte Raum transformiert: Produkte und
                                                               Exponate individuell zugeschnitten präsentiert werden? Raumgröße, Werkstoffe und Farben das
                                                               Nutzerverhalten adaptieren? Sich die Szenerie dank maschinellem Lernen konsequent weiterent-
                                                               wickelt? Und aufgrund von Real-Time-Data das Erlebnis für jeden Einzelnen optimiert wird?

                                                               Dataism

                                                               Dann wird einmal mehr deutlich, wie wertvoll kontinuierlich erhobene Daten sind. Demografische
                                                               und geografische Fakten wie Alter, Wohnort, Geschlecht, Bildung können das Nutzerbild genauso
                                                               vervollständigen wie Informationen zu Bewegungsmustern, Verweildauer, Sprachwahl, Konsum-
                                                               bereitschaft, Online-Aktivitäten, Besuchshäufigkeit (online und offline), Loyalität und Feedback auf
                                                               anderen Plattformen. So lassen sich nicht nur Rückschlüsse auf das Userverhalten ziehen, sondern
                                                               auch die eigene Kommunikation verbessern, Zielgruppenansprache sowie Visitor Journeys optimie-
                                                               ren und Ausstellungsräume – seien sie real, hybrid oder virtuell – attraktiver gestalten. Auch wenn
                                                               bezüglich einer Hyperpersonalisierung noch viele Fragen offen sind (Wie können Besuchende noch
                                                               überrascht und zum Staunen gebracht werden, wenn Daten alle Wünsche kennen und sich Raum-
                                                               erlebnisse daran anpassen?), wird es eine Kommunikation im Raum ohne das Erheben, Auswerten
                                                               und Interpretieren von Daten sicherlich nicht mehr lange geben. Denn die Gestaltung künftiger
                                                               Raumerlebnisse wird diese Datenströme sichtbar machen: entweder als direkte Visualisierung oder
                                                               als räumliche Antwort auf die Evaluation. Museen (aber auch Marken!) sollten also ihre Daten gut
                                                               aufbereiten und wissen, was sie damit anfangen können, sowie ihre Sammlungen digitalisieren
                                                               – und Kreativschaffende müssen lernen, dynamische Daten als Grundlage ihrer gestalterischen
                                                               Arbeit zu verstehen. Um dann in Co-Kreation mit künstlicher Intelligenz neue interaktive Lern- und
                                                               Wissensräume zu generieren und emotionale, multisensorische Erlebnisse zu schaffen, die sich
                                                               individuell an die Präferenzen der NutzerInnen anpassen lassen. Daten werden zu einer neuen
                                                               Sprache zwischen Maschinen, die auch wir Menschen fließend beherrschen sollten ...

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