Page 33 - AIT1225_Leseprobe
P. 33
Dr. Christiane Fülscher
Foto: Alona Antoniadis 1993–2000 Architekturstudium Fachhochschule Hamburg 2000–2006 Kunstgeschichtsstudium Universität Hamburg 2019 Promotion „Deutsche Botschaften 1949–1972. Zwischen Anpassung und
Abgrenzung“, Fakultät Architektur und Stadtplanung, Uni Stuttgart 1994–2000/2001–2022 Mitarbeit in Architekturbüros, im Institut für Architekturgeschichte der Uni Stuttgart und Lehrgebiet Architek-
turtheorie und -wissenschaften der TU Darmstadt; Lehraufträge TU Darmstadt, HS München und VilniusTech Seit 2022 Professorin für Architekturgeschichte, -theorie und Denkmalpflege FH Dortmund
Stich: U. Kronstein. Leipziger Illustrirte Zeitung 1878 saai, Werkarchiv Gutbrod
Abb.1: V. Rumpelmayer – Kaiserlich Deutsche Botschaft in Wien (1877-1879) • Imperial German Embassy in Vienna Abb. 2: Rolf Gutbrod – Modell ausgeführter Entwurf • Rolf Gutbrod – Model of the completed design
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die zur Jaurésgasse ausgerichteten Empfangs- von Monotonie und Symmetrie. Schmale Glasbänder trennten die Geschosse vonein-
räume zugunsten von Wohnflächen für Botschaftsmitarbeiter neu geordnet, und mit ander, unregelmäßig angeordnete, nach unten ausbrechende Öffnungsflügel belebten
der Verabschiedung des „Gesetzes über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem die Fassade. Die Raffinesse des gegenüberliegenden Wohnhauses lag in der plastischen
Deutschen Reich” wurde die diplomatische Vertretung 1938 geschlossen. Doch erst die Ausformung des kleinteiligen Wohnens auf unterschiedlich großer Fläche (Abb. 4). Die
Transformation des Komplexes durch die Heeresbauverwaltung und Josef Hoffmann schlichte Putzfassade wurde mit farbig gefassten Deckenkanten samt geschosshohen
zum „Haus der Deutschen Wehrmacht und Standort-Offiziersheim“ 1939 bis 1940 sowie Fensterelementen kombiniert.
Zerstörungen der Residenz durch Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg machten einen
Wiederaufbau des deutschen „Schandfleck[s]“ undenkbar, die Geschehnisse vor Ort Konferenzsaal avanciert zur Bühne
3
standen pars pro toto für die belastete deutsche Geschichte und bildeten die ideo-
logische Grundlage des im November 1958 ausgeschriebenen Wettbewerbs für einen Gutbrods Gestaltungswille durchdrang das Gebäude bis ins letzte Detail; er zeigte sich
Neubau, den der Architekt Rolf Gutbrod für sich entscheiden konnte. an der prismatischen Ausformung der Umfassungsmauer aus Beton, den schalrauen
und strukturierten Sichtbetonflächen sowie einer sich aus der Ebene herausfaltenden
Idee des Repräsentierens neu interpretiert Ecke, die sowohl im Innen- als auch Außenraum wiederholt in Erscheinung trat. Innen
wurden die Materialien Holz, Metall, Beton, Naturstein und Glas gegeneinandergesetzt
Gutbrod schnitt den 1962 bis 1965 ausgeführten Neubau auf seinen speziellen Ort und und erzeugten durch die Vielfalt eine warme Atmosphäre. Eine plastisch geformte
seine besondere Funktion zu. Der Entwurf folgt den Außenkanten des kaiserzeitlichen Akustikdecke im Empfangssaal reagierte auf die Raumvertiefung, der angrenzende,
Altbaus, differenzierte jedoch die drei Gebäudeteile Kanzlei, Residenz und Wohnhaus abtrennbare Konferenzsaal avancierte zur Bühne (Abb. 5). Raumhohe Türelemente
(Abb. 2). Der Stuttgarter interpretierte die Idee des traditionellen Repräsentierens neu, sowie das Übergleiten der Oberflächen von Raum zu Raum, von außen nach innen
indem er die Residenz als Bestandteil eines größeren Organismus definierte. Während und umgekehrt, vereinten die einzelnen Abschnitte zu einem Kontinuum. Der von Bla-
im Vorgängerbau die Residenz an oberster Stelle der Gebäudehierarchie stand, war sie sius Spreng (1913–1987) künstlerisch ausgestaltete Innenhof bildete nach Gutbrod das
4
bei Gutbrod mit drei Geschossen der niedrigste Baukörper. In der Höhe dominierte die „Herz der Anlage“ und war von allen drei Straßenseiten einsehbar (Abb. 6). Sprengs
sechsgeschossige Kanzlei, in der Fassadenqualität allerdings wieder die Residenz. Mit- künstlerische Interventionen, Bodenreliefs und mäanderartig eingelegte Bänder verei-
tels „Schuppen“ aus Monte-Rosa-Quarzit verlieh der Architekt den beiden Obergeschos- nigten sich mit Gutbrods Architektur im Innen- und im Außenraum zu einem exzep-
sen der Residenz einen monolithischen Charakter und brachte diese über einem trans- tionellen Ensemble.
parenten Empfangsgeschoss zum Schweben (Abb. 3). Die Natürlichkeit der Material-
schichtung korrelierte mit dem Baumbestand entlang der Auffahrt, der Schattenwurf Sonderstellung durch künstlerische Ausprägung
der Bäume brach sich an der unregelmäßigen, rauen Oberfläche. Die Verteilung der
Räume im Inneren, die durchlässige Eingangshalle, aber auch die Abgeschiedenheit Mit seiner künstlerischen Ausprägung nahm der Entwurf für die Deutsche Botschaft in
der Botschafterwohnung im zweiten Obergeschoss machten die Repräsentationsräume Wien eine Sonderstellung innerhalb der bundesdeutschen Neubauvorhaben für diploma-
der unteren beiden Geschosse zu Orten der Begegnung. Für die Kanzlei hatte Gutbrod tische Vertretungen nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In der Frage nach einem angemes-
eine schlichte Verkleidung aus glatten Muschelkalkplatten gewählt, die deren Funktion senen repräsentativen Ausdruck für die gewandelte, demokratische Gesellschaft der noch
als Verwaltungsbau unterstrich. Innerhalb des Aufbaus der Kanzleifassade spielte der jungen Bundesrepublik wirkte sich die in Wien angestoßene Nivellierung der hierarchi-
Architekt mit Elementen der Struktur und Unordnung und vermied dadurch jede Form schen Ordnung von Kanzlei und Residenz unmittelbar auf nachfolgende Bauten aus.
AIT 12.2025 • 111

