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Entwurf • Design Brückner & Brückner, Tirschenreuth/Würzburg
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                                                                           Standort • Location Basilikaplatz 3,  Waldsassen
                                                                           Nutzfläche • Floor space 2.090 m 2
                                                                           Fotos • Photos Marie Luisa Jünger, Hümpfershausen
                                                                           Mehr Infos auf Seite • More infos on page 134






























             Der ellipsenförmige Tisch im großen Sitzungssaal bildet den Rahmen für politische Debatten und Entscheidungen. • The elliptical table in the large conference room provides the framework for political debates and decisions.



             von • by Christine Schröder
             D   as Stiftland im Oberpfälzer Wald wird von dem im Jahr 1133 gegründeten Zister-  tuelle Themen. Sechs bodentief verglaste Öffnungen gewähren erste Einblicke, bevor
                 zienserkloster Waldsassen geprägt. Als Großgrundbesitzer formten die Äbte
                                                                           es durch die maßgefertigte Holztür mit wellenförmiger Struktur nach drinnen geht.
             über Jahrhunderte hinweg die Landschaft und bestimmten das Leben der dort an-  Das Foyer bildet einen multifunktionalen Marktplatz als Ort des Empfangs, der Begeg-
             sässigen Menschen. Heute bilden die Bauten des Klosters in der gleichnamigen  nung und der Orientierung. Von hier gehen links und rechts die öffentlich zugängli-
             Kleinstadt das kulturelle Zentrum der Region. Die Ordensfrauen sind als Betreiber  chen Funktionen Bürgerbüro und Tourist-Information ab. Geradeaus ist hinter einem
             zahlreicher sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Einrichtungen nach wie vor prä-  weiteren, wandfüllenden Bildschirm die Erschließung mit Aufzug und lichtdurchflute-
              sent. Direkt gegenüber dem historischen Ensemble aus Abtei, barocker Stiftsbasilika  tem Treppenhaus verborgen. Hierfür wurden die vorgefundenen Glasbausteine an der
              und der ebenfalls im barocken Stil erbauten Stiftsbibliothek liegt das Rathaus. 1893  rückseitigen Fassade durch Fenster ersetzt. Überhaupt wurden im ganzen Haus sämt-
              als Volksschule erbaut und 1910 um einen Trakt im neobarocken Stil erweitert,  liche Fenster ausgetauscht. Zum Einsatz kamen mundgeblasene Isoliergläser aus der
              wurde das Gebäude 1972 ganz im Zeichen der damaligen Zeit zur Stadtverwaltung  ortsansässigen Glashütte, die deutschlandweit als einzige mundgeblasenes Flachglas
             umgebaut. In jeglicher Hinsicht baulich stark in die Jahre gekommen, war der Schritt  produziert. Diese einzigartigen Gläser sorgen nun für den Erhalt des historischen Er-
             zur Sanierung unumgänglich. Mit der umfangreichen Sanierung wurden Brückner &  scheinungsbildes und lenken atmosphärisch gebrochenes Licht nach innen. Natürlich
              Brückner Architekten aus dem benachbarten Tirschenreuth betraut. Am Ort sind die  ohne dabei auf die klimatischen Vorzüge von heute zu verzichten.
              beiden Brüder keine Unbekannten: Bis 2008 haben sie im Auftrag der Zisterziense-
              rinnen das Kultur- und Begegnungszentrum St. Joseph mit viel Fingerspitzengefühl  Hochwertige Einbauten mit Verweis auf die Geschichte
             in die Bestandsmauern des Klosters eingefügt. In engem Dialog mit dem Bürgermei-
             ster und in Absprache mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege ist nun  Ein besonderes Augenmerk wurde auf die maßgefertigten Einbauten gelegt, die im
             vis à vis ein moderner Verwaltungsbau entstanden, in dem Mitarbeiter, Bürger und  großen Sitzungssaal ihre Vollendung finden. Gestalterisch wie handwerklich bildet
             Besucher gleichermaßen auf ihre Kosten kommen. Die Geschichte bleibt spürbar,  der gesamte Innenausbau aus dunklen Hölzern, hellem Stein, bronzefarbenen Stahl-
             wurde jedoch gestalterisch und funktional in die heutige Zeit übertragen.  bauteilen und weiß gekalkten Wänden eine Reminiszenz an die vorherrschende Ma-
                                                                           terialsprache der Jahrhundertwende. Im 1. und 2. Obergeschoss finden sich Büros,
             Ein offenes Haus für die Bürger                               Besprechungsräume und der große Sitzungssaal. Der zu drei Seiten natürlich belich-
                                                                           tete Raum wird von einer Abfolge über Wand und Decke laufender, zeitgemäß inter-
             Mit dem klaren Ziel, ein offenes Haus für die Bürger zu schaffen, wurden zunächst  pretierter Holzvertäfelungen flankiert. Hier findet sich die wellenförmige Struktur der
             innen wie außen störende Ein- und Anbauten entfernt. Die vormals grüne Fassade er-  Haupteingangstür im Erdgeschoss wieder. Bündig darin eingelassen ist die Zugangs-
             strahlt heute in einem hellen Grau-blau. Davon abgesetzt kommen die weiß gestriche-  tür, die in den schlicht gestalteten Raum mit großer Wirkung führt. Im Zentrum bildet
              nen Faschen an den Fenstern und entlang des Schweifgiebels subtil zur Geltung. Das  ein ellipsenförmiger Sitzungstisch aus Eichenholz mit einer Linoleum-Auflage in ele-
              zum Basilikaplatz zeigende Satteldach wurde von einer Schleppgaube befreit und die  gantem Grau die Grundlage für demokratische Entscheidungen. Bündig darin einge-
             vormals braunen Ziegel durch naturrote Biberschwänze ersetzt, womit das barocke  passt und geschickt verborgen sind technisches Equipment wie Beamer und Steck-
             Ensemble am Platz vollendet wäre. Die größte Veränderung an der Fassade bildet das  dosenausgänge. Sitzbänke aus Holz entlang der stirnseitigen Fenster bieten interes-
             neue Eingangsportal aus Granit. Der Zugang zum Gebäude erfolgt nun längs der Haus-  sierten Zuhörern einen bequemen Platz. Den krönenden Abschluss bildet schließlich
             wand über den sogenannten Stadtbalkon. Schmale Säulen tragen das Dach, wodurch  das Trauzimmer im Dachgeschoss mit offenliegendem Gebälk. Die im Tausch mit der
             ein wettergeschützter Zugang mit freiem Blick auf das Kloster gegenüber entstanden  Schleppgaube eingesetzten Dachfenster geben von hier stimmungsvoll den Blick auf
             ist. Ein Bildschirm an der Stirnseite ersetzt das Schwarze Brett und informiert über ak-  Basilika, Kloster und Stadt frei.

                                                                                                                           AIT 12.2020  •  101
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