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Matthias Becker
1994–1999 Studium Produktdesign, Bauhaus-Universität Weimar 1999/2000 Stipendium laboratorium:design, Bauhaus-Universität Weimar 2000–2005
Freier Mitarbeiter Kunstflug Formgestaltung, Krefeld 2004 Gründung Becker Hübner Designer, Düsseldorf 2007–2010 Freier Mitarbeiter Interbrand
Zintzmeyer & Lux, Zürich 2008–2010 Lehraufträge, PBSA Düsseldorf seit 2011 Creative Director Expotechnik Heinz Soschinski GmbH, Taunusstein
Tablet, Touchtable, 3-D-Brille oder Augmented Reality. Was zu völlig neuen Messe - wichtig ist es, eine individuell gestaltete, ganz eigene Atmosphäre zu schaffen, die
konzepten führen wird, ist die Digitalisierung des Kunden selbst. Her kömmliche Vertrauen aufbaut, inspiriert und im besten Fall eine Bindung zum Kunden schafft.
Industrien wie beispielsweise der Maschinenbau verschmelzen mit völlig neuen Mög - Diese Atmosphäre kann einen Wettbewerbsvorteil etablieren, der entscheidender ist
lich keiten. Hier entstehen völlig neue Messeformate: Automobile auf Elektro nik-Kon - als Nuancen in Preis oder Produktleistung. Hinzu kommt ein wichtiger Aspekt aus
gressen, LAN-Parties auf Industrie-Messen, Cloud-Computing von Haushalts gerä ten. Die Sicht unserer Kunden: Interaktion ist messbarer als ein reines Zählen von Besuchern.
Veranstalter suchen aktuell nach vielen neuen Formaten und Angeboten, bieten Foren Messen werden zukünftig stärker an ihrer Performance gemessen.
und Begleitver anstal tun gen. Kongresse werben mit attraktiven Austragungsstädten, die
einen adäquaten Rah men für die Messe bieten sollen. Hieran sehen wir, dass wir in These 4: Kultur ist wichtiger als Trend
größeren Zusammenhängen denken müssen. Wie unterstützen wir die Strategie eines
zunehmend digitalen Kunden sowohl verständlich wie auch aufmerksamkeitsstark? Ja, selbstverständlich wird das Design von Messeauftritten von Trends und Lifestyle
Wie machen wir neue digitale Prozesse überhaupt greifbar und zeigen den Nutzen beein flusst. Polygonale Formen in der Architektur und Grafik, Kombinationen von hellen
erlebnisstark auf? Und wie genau über zeugen wir welche Zielgruppe? Hier reicht es Höl zern und Oberflächen für Mobiliar und Dekoration, Messing- und Kupferfarben und
eben nicht aus, dem Besucher ein Tablet in die Hand zu geben; hier denken wir auch viel Grün – Messeauftritte nehmen Ideen aus den sozialen Netzwerken auf und multi-
mal an einen Kickertisch, der Schadsoft ware und Firewall im Thema Netz werk - plizieren diese für Besucher. Wie in den vorangegangenen Thesen ausgeführt, sind
sicherheit lebendig und unterhaltsam demonstriert. Das Schlagwort „Customer Centri - solche „oberflächlichen“ Einflüsse aber immer stärker bestimmt durch inhaltliches
city“ der Digitalisierung müssen wir in unseren Konzepten eindeutig fokussieren. Denken. Und an diesem Punkt spielen kulturelle Aspekte eine immer bedeutendere
Gesamt zusammenhänge der Digitalisierung als klaren Nutzen sichtbar und erlebbar zu Rolle. Ein Beispiel, das sich direkt aus unserem aktuellen Kommunikationsverhalten
machen bringt Messebau auf einen völlig neuen Stand. Im wörtlichen Sinne. ableiten lässt, ist, dass die Attraktivität von epischen Produktbeschreibungen gegen null
strebt. Wenn die ganze Welt mit 160 Twitter-Zeichen oder einer bildergeprägten
These 2: Die Story ist alles Instagram-Welt ange trieben wird, dann muss man das als kulturelle Entwicklung sehen
und neue Umset zungswege für Messeauftritte denken. Kommunikativ wie räumlich! Ein
Lange waren Messen inszenierte Ausstellungen von Exponaten. Dem gut inszenierten weiterer kultureller Aspekt ist die Internationalisierung von Marken und Kunden, die sich
Erzählen individueller Stories wird aber die Zukunft gehören. Diese These resultiert stark von den ganz großen Playern immer weiter auch auf mittelständische Kunden bezieht.
aus dem Thema der Digitalisierung, die dazu zwingt, größere, innovative Zusammen - Hier bekommt der Einfluss von Kultur eine sehr individuelle Bedeutung, die man kon -
hänge spannend erlebbar zu machen. Zugleich wäre es allerdings zu kurz gedacht, Story - zentriert verstehen und auch akzeptieren muss. Im Vergleich zum vorangegangenebn
telling nur darauf zu reduzieren. Denn das Marketing eines Unternehmens fokussiert völ- Twit ter-Beispiel entstehen hier Spannungsfelder, die wir lösen müssen. Beispielsweise ist
lig zu Recht immer stärker auf homogene Stories, die über alle Medien und Maßnahmen das japanische Selbstverständnis davon geprägt, eher zurückhaltend zu sein und lieber
hinweg skaliert werden können. Aktuelle – häufig internationale – Kampagnen, Claims mehr zu lesen, als einen Produktmanager anzusprechen. Das sind sehr scharf umrissene
und Keyvisuals haben heute deutlich mehr Einfluss auf Architektur und Design eines Auf gaben, die wir individuell angehen und gerade auf internationaler Ebene sehr viel
Messe standes. Die Story bestimmt das Format! In einer solchen kampagnenorientierten stärker gewichten müssen, als bloß trendiges Design zu etablieren.
Kom muni kation sind Messen der Baustein der Live Experience. An diesem Punkt sehen
wir, dass dieser Live Experience heute eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Denn These 5: Nachhaltigkeit bekommt Rückenwind
in einer Welt, in der sich die Kommunikationslandschaft stark auf digitale Möglichkeiten
fokus siert, sehen Marken auf Messen oder Events die Chance, sehr nah und echt mit Nachhaltigkeit ist ein Dauerthema und selbstverständlich ein wichtiger Aspekt für
Interes senten in Beziehung zu treten. Das führt zu dem Wunsch nach einzigartigen Konzeption und Design. Im Messebetrieb heißt das vordergründig: Wiedereinsatz von
Inszenierungen, den man sehr direkt mit „weg von der Technologiedarstellung hin zur Material, Modulbauweise, Vermeiden von scheinbar Unnötigem. Das steht allerdings im
Prozessdarstellung hin zum Erlebnis“ beschreiben kann. LED-Wände lösen hierbei Pro - Widerspruch zur derzeitigen Entwicklung hin zu hoch individualisierten Architekturen,
jektionen und Splitwall systeme zunehmend ab. Medien werden so stärker zum integra - kurzen Kommunikations- und Kampagnenintervallen und dem Anspruch auf Wertig -
len Teil des Gesamtbildes. Der Inhalt tritt deutlicher vor die Technik! So entstehen Auf - keit und medialer Präsenz. Mithilfe moderner Planungs- und Produktions techniken wie
tritte, die den Besucher das Erlebnis ermöglichen, größere Zusammenhänge lebendig zu dem 3-D-Druck, neuen Materialien, dezentralen Logistikkonzepten und umfassend
verstehen oder sogar Teil einer Story zu sein. Hier schließt sich die dritte These an. genutzter Kommunikationstechnik lässt sich dieser Widerspruch allerdings perspek-
tivisch überwinden. So können modulare Systeme in Zukunft in Kleinserien individuell
These 3: Interaktion ist die neue Inszenierung gestaltet und mediale Oberflächen in verschiedenen Formaten nahtlos integriert wer-
den. Bauteile werden nicht mehr verschifft, sondern vor Ort CNC-gefertigt. Eine Vor -
Interaktion auf einem Messestand ist ein Begriff, der nicht mit der Grundleistung ver- gehens weise, die heute bereits vielfach funktioniert. Einen besonderen Blickwinkel ver-
wechselt werden sollte, eine Dialogfläche zu schaffen. Messen sind in ihrem Grund - dienen hierbei die Exponate. Besonders für die Maschinenbaubranche bedeuten Messe -
verständnis Begegnungsstätten, die Aussteller und Besucher zu einem persönlichen ver anstal tungen enorme Anstrengungen im Handling. Bereitstellung, Trans port, Aufbau
Austausch moti vieren sollen. Interaktion bedeutet vielmehr, den Besucher einzuladen, und Einrichten, Abbau und Überholen vor dem Verkauf sind auf wendig und teuer.
etwas auszuprobieren, mitzumachen, einen Nutzen oder einen Prozess tatsächlich zu Virtuelle Exponate, Simulationen in Echtzeit oder andere modellhafte, intelligente
erfahren, zu spüren oder auch spielerisch Vorteile zu erkennen. Hierbei geht es um die Darstellungen der Funktionen werden zukünftig einige reale Groß exponate ersetzen
Dosis. Man kann den Messeauftritt einer internationalen Marke nicht zum Spielplatz können. Darüber hinaus sind sie oft crossmedial nutzbar und leicht anzupassen.
degradieren. Die Attraktion von Partizipation, das „Mittendrin, statt nur dabei“ schafft Letztlich bedeuten alle diese Veränderungen, dass sich die Aussteller noch intensiver
gezielten Raum für das Ver ständnis komplexer Zusammenhänge. Aber genauso auf ihre Kunden und die Kommunikation mit ihnen einstellen müssen.
AIT 9.2018 • 143