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ESSAY




                                SPARKASSENKIND








                                       Ein persönliches Essay von AIT-Redakteurin Annette Weckesser zum Thema Banken





           U  nd wo arbeiten Deine Eltern? In Zeiten von Homeoffice und virtueller Arbeitswelt  wir Kinder sogleich. Geschockt rannte ich im Dunkeln rüber zum Haus des Co-Direktors,
              können Kinder mit dem Büroarbeitsplatz ihrer Eltern kaum reale Orte und Bilder  um zu berichten, was vorgefallen war. Die Polizei kam noch in der Nacht. Am Tag darauf
           verbinden. Sie wissen allenfalls, dass Vater oder Mutter bei Bosch, bei IBM oder der  wurden mein Bruder und ich von der Schule nach Hause geschickt. Jetzt wollte die Polizei
           Allianz arbeiten. Wo dieser Ort ist? Fehlanzeige! Ich wusste in den 1970er/1980er-Jahren   Fingerabdrücke von allen Familienmitgliedern nehmen. Gefunden wurden die Einbre-
           genau, wo meine Eltern unseren Lebensunterhalt verdienten. Denn ich war ein Sparkas-  cher nie. Das wenige Wertvolle, was geblieben war, wanderte folgerichtig in den Tresor,
           senkind. Beide arbeiteten im Geldinstitut mit dem roten Logo in unserer kleinen Stadt  und die Nachbarn fingen an, die Abdeckgitter ihrer Kellerschächte mit Ketten zu sichern.
           Osterburken, mein Vater als Innenrevisor, meine Mutter in Teilzeit in der Kreditabteilung.  Überhaupt: der Tresorraum. Mein Vater nahm mich ein paar Mal mit. Die große, schwere
           Und: Ich kannte ihren Arbeitsplatz, denn ich war oft dort. Mitten im Zentrum des Ortes,   Stahltüre ließ Berge von Gold, Geld und Schmuck erwarten. So war es doch in unseren
           vis-à-vis von Drogerie, Gasthaus und Schreibwarenladen, thronte auf einem Plateau das  Donald-Duck-Heften! Drinnen dann die totale Ernüchterung. Der kleine Raum im Keller
           Bankgebäude mit der Waschbetonfassade. Wahrlich kein architektonisches Highlight,  der Sparkasse war vom Boden bis zur Decke, auf allen vier Seiten, mit kleinen Schließfä-
           wuchtige Kreditinstituts-Architektur. Nebenan, parallel zum Bach, schloss später der   chern eingefasst. Alle zu, versteht sich. Der Tresorraum sah viel harmloser aus, als ich ihn
           Neubau mit den schmalen hohen Fenstern an. Ich kannte die große Schalterhalle, und   mir vorgestellt hatte. Von wegen Glanz und Gloria! Feierlich waren hingegen die jährli-
           ich kannte die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hinter den Schaltern. Ich kannte sie alle  chen Weihnachtsfeiern mit allen Sparkassen-Familien in der Schalterhalle. Dafür eignete
           mit Namen, und sie kannten mich als Kindergartenkind und Schülerin. Überweisungen  sich der große Raum im Erdgeschoss bestens. Irgendjemand kam auf die Idee, dass ich
           musste man noch persönlich abgeben oder in den Briefkasten werfen und das Geld vor  mit der Tochter einer Mitarbeiterin aus dem Nachbarort zum musikalischen Rahmen-
           Ort aufs Sparbuch einzahlen. Nichts virtuell, alles real! Toll war der Weltspartag, wegen  programm beitragen könnte. Ich kannte das Mädchen nicht. Wir trafen uns ein paar Mal
           der Geschenke. Während BankkundInnen in der Regel                                  zum Üben. Unser Auftritt – ich hatte enormes Lampenfie-
           nur Zugang zur Schalterhalle hatten, durfte ich ab und                             ber – verlief zufriedenstellend. In meiner Erinnerung flö-
           an mit ins „Backoffice“, zum Arbeitsplatz meines Vaters.                           teten wir mit dem Rücken zum Publikum. Danach sahen
           Beeindruckend: die langen Gänge. Beeindruckend: das                                wir uns nie wieder. Das Weihnachtsessen fand in einem
           große Büro im ersten Obergeschoss, das sich zum Dorf-                              hellen Raum im Untergeschoss statt, vielleicht dem Spar-
           bach, der Kirnau, öffnete. Raumhoch waren die Schrank-                             kassen-Pausenraum. Für Kinder gibt es nichts Langwei-
           wände  mit  Mahagoni  verkleidet.  Wow!  Den  intensiv                             ligeres als Firmenessen! Während die Kolleginnen und
           braun-glänzenden Farbton kannte ich bisher nur von den                             Kollegen der Belegschaft endlos aßen, tranken, rauchten
           kleinen Kastanien, die ich im Herbst sammelte. Und das                             und schwatzten, erkundeten wir Kinder die mittlerweile
           Beste: In den Mahagonischränken verbarg sich ein weite-                            dunkle Schalterhalle. Wir probierten sämtliche Telefone
           die Ufer trat. Im Dezember 1993 wurde die Region von  Foto Neubau Sparkasse: Annette Weckesser  Spaß. Unsere Telefonaktion blieb leider nicht unentdeckt.
           rer Fundus an Weltspartags-Geschenken, von denen ich
                                                                                              aus und hatten als nächtliche „Büromitarbeiter“ unseren
           mir welche aussuchen durfte. Im Kleinkindalter ging ich
           mit meiner Mutter und meinem Bruder nach dem Kin-
                                                                                              Bald war Schluss mit den Bürospielchen. Der Co-Direktor
           dergarten oft am Bürofenster meines Papas vorbei. Und
                                                                                              – oder war es der Direktor? – kam, und wir mussten die
                                                                                              so spannende Arbeitswelt verlassen. Oft war die Sparkas-
           jedes Mal öffnete er sein Sparkassen-Fenster und winkte
           hinaus. Dann kam das Jahr, als der kleine Dorfbach über
                                                                                              se bei uns zu Hause Thema. Meine Eltern blieben nach
                                                                                              dem Essen meist am Tisch sitzen und unterhielten sich.
           einem flächendeckenden Jahrhunderthochwasser heimgesucht, 13 Monate später noch-  Und wenn beider Stimmen einen Flüsterton anschlugen, wussten wir, dass diese Infor-
           mal. Die Überschwemmung machte auch vor der Sparkasse nicht halt. Um die nassen   mationen nicht für unsere Kinderohren bestimmt waren. Für die Ohren meines 70-jähri-
           Geldscheine in Sicherheit zu bringen, transportierte mein Vater diese waschkörbewei-  gen „Onkels“ – der eigentlich der Onkel meines Vaters war – schon. Er war zuvor selbst
           se in seinem BMW nach Hause. Und meine Mutter steckte das Papiergeld kurzerhand  Direktor eben jener Sparkasse gewesen und kam, als er in Pension war, mittags stets zu
           im Keller in den Trockner, um zu verhindern, dass die D-Mark-Scheine zusammenkleb-  uns zum Essen. Für mich und meinen Bruder der beste Ersatz-Opa! Meine Eltern liebten
           ten. Danach wurde das Geld, das nicht unseres war, sortiert und stapelweise auf dem   ihren Beruf. Heute würde man sagen, dass sie sich damit „identifizierten“. Mein Vater
           Esstisch gebündelt. Wir Kindern fanden es spannend! Ein Gefühl von James Bond in  nannte seinen Arbeitsplatz liebevoll „Sparkässle“. Auch meine Mutter mochte ihre Arbeit
           unserem Haus. Die Augen meiner Oma, die nur eine kleine Rente bezog, wurden groß  in der Kreditabteilung sehr. Und tatsächlich machten sie, um mein Abitur herum, einmal
           und strahlten. Diese Trockenübung war damals so unbürokratisch-pragmatisch, wie dies   den Vorschlag, dass ich doch vielleicht auch dort anfangen könnte. Ich entschied mich
           heute wohl kaum noch vorstellbar ist. Eben „Hands on!“ Ein weiteres Mal „James Bond“   anders. Ich ging weg aus der Kleinstadt, weg vom Sparkässle, auf nach Paris. Heute, viele
           hatte weniger Glamour: Denn wir wurden ausgeraubt. Als die Sparkassenfeier auf der  Jahrzehnte später, leben meine Eltern nicht mehr. Wegen der großen Distanz – rund 100
           anderen Seite unserer Kleinstadt anstand, war den Einbrechern wohl klar, dass wir als   Kilometer trennen Osterburken und Stuttgart – habe ich die Konten auf der Sparkasse
           gesamte Familie an diesem Fest teilnehmen würden. Als wir nach der Feier nach Hause   aufgelöst. Es fiel mir äußerst schwer, zu diesem Zweck noch einmal die Schalterhalle zu
           kamen, erwartete uns das absolute Chaos. Alles durchwühlt und durcheinandergebracht.   betreten. Nur wenige bekannte Gesichter konnte ich noch entdecken. Früher war die
           Mein Kommunionsschmuck, der im Sparkassentresor hätte sein sollen – geraubt. Der  Schalterhalle ein Ort freudiger Begegnungen gewesen. Ab und an bin ich noch in meinem
           Schmuck meiner Mutter, der ebenso im Safe hätte sein sollen – weg. Die Pelzmäntel   Heimatort. Manchmal setze ich mich dann auf die kleine Insel in der Kirnau und schaue
           meiner Mama – damals trug man noch welche – verschwunden. Den Verlust so mancher   hoch zum Bürofenster meines Vaters. Dann sehe ich mich unten auf dem Weg als kleines
           Dinge bemerkten wir erst, wenn wir sie brauchten. Dass die Fernseher fehlten, monierten  Mädchen stehen und ihn oben am Fenster. Wir winken uns zu.

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