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SERIEN STUDENTENARBEIT  •  STUDENT WORK



                                                                             Sarah Jansen: Über die Freude
                                                                             [...] Wann hat Architektur zuletzt bei dir Freude ausgelöst? Und war es tiefe, innere
                                                                             Freude oder kurze, belanglose Faszination? Tiefe, innere Freude empfand ich zuletzt
                                                                             beim Anblick von Can Lis. Übereilt angekommen, unaufmerksam eingetreten, habe
                                                                             ich im ersten Moment die Kraft des Hauses gänzlich übersehen. Nachmittags war es
                                                                             meine Pflicht, den ersten  Text  zu  verfassen. Das Formulieren eines  Textes, eines
                                                                             Essays, war seit jeher eine unüberwindbare Hürde für mich. Also suchte ich mir
                                                                             einen Raum, in den ich mich zurückziehen konnte, in dem ich Ruhe hatte. Ich saß
                                                                             nun in diesem Raum – wenn ich ihn überhaupt so nennen mag! –, einem Raum, des-
                                                                             sen Nutzung sich mir nicht erschloss und der viele Fragen aufwarf: Für welche Gege -
                                                                             benheit wurde dieser Raum benötigt? Wurde er benötigt? Wieso dieser Tisch, halb-
                                                                             kreisförmig  zum Meer orientiert.  Warum dieser halbkreisförmige Ausschnitt der
                                                                             Wand? Weshalb ist der Boden an drei Seiten von den Wänden abgerückt? Dieser
                                                                             Raum ist mehr Ruine als Raum. Der Tisch mehr Trümmerstück als Tisch. Dieser Ort
                                                                             stand für mich nicht in Verbindung zum übrigen Bauwerk. Doch was unterschied
                                                                             ihn? Ich schweifte durch Can Lis und betrachtete es näher. Es ist ein undefinierter
                                                                             Raum, in einem Haus das ansonsten so wunderbar klar ist. Das mit seiner Ein -
                                                                             fachheit besticht und uns staunend zurücklässt. Jede Nutzung hat ihren eigens für
                                                                             sie erschaffenen Ort mit individuellem Bezug zum Meer. Die Orte in ihren gut pro-
               Im Haus empfand Sarah Jansen eine große Freude. In ihrem Text versuchte sie, dieses Gefühl zu ergründen.  portionierten Körpern stehen aufgereiht nebeneinander,  vereint durch denselben
                                                                             Stein, den mallorquinischen Marès; ein Stein, der durch seine Beschaffenheit, sein
                                                                             Format und seine Farbe, ehrlich, unverputzt, an diesem Ort eine solche Ruhe aus-
                                                                             strahlt, dass bereits nach kurzem Aufenthalt jeglicher Stress, jegliche Hektik verges-
                                                                             sen ist. Das Haus steht an diesem Ort wie selbstverständlich und unbeeindruckt. Ich
                                                                             kann nicht sagen, wann es gebaut wurde, obwohl ich das Erbauungsjahr kenne. Es
                                                                             fühlt sich an, als ob hier tausend Leben gelebt wurden, obwohl das nicht stimmt. In
                                                                             all seiner Erhabenheit steht es dort. Es erfasst einen das Gefühl, dass selbst die
                                                                             Natur einen respektvollen Abstand bewahrt. Und unvermittelt empfand ich Freude,
                                                                             tiefe, ehrliche Freude. Doch was ist Freude? Und warum empfand ich sie ausgerech-
                                                                             net hier und in diesem Moment? [...]




               Der Lieblingsplatz von David Frei war eine sonnige Ecke vor dem Gebäude. Hier fand er Ruhe und Gelassenheit.  David Frei: Ein Plädoyer für das Überflüssige
                                                                             [...] In Can Lis darf die Zeit sie selbst sein. Befreit vom Korsett monetärer und ökono-
                                                                             mischer Belange, besinnt sie sich darauf, ein ungezwungener Bestandteil natürlicher
                                                                             Kreisläufe zu sein. Kein ablaufendes Produkt, sondern in jedem Moment unendlich!
                                                                             Das Haus filtert die Schikanen der Außenwelt. Die Hast, die Eile, den Stress. Es filtert
                                                                             die Geschwindigkeit! Zurück bleibt ein Gefühl der Ruhe und Gelassenheit, geborgen in
                                                                             der völligen Einigkeit von Haus und Natur. Das Segelboot, sanft getragen von Wasser
                                                                             und Wind, verkörpert diese Einigkeit. Wortlos taucht es zwischen den zwei Stützen des
                                                                             Loggiaflügels, dessen Vertikalität dem endlos anmutenden Horizont einen Rahmen ver-
                                                                             leiht, auf. Verschmilzt dort mit der Bildhaftigkeit des Moments, bis es für ungewisse
                                                                             Zeit hinter einer der Stützen verschwindet, nur um im Anschluss ein Teil des nächsten
                                                                             Bildes zu werden. Während bei dieser Szenerie die Zeit stehen zu bleiben scheint, fei-
                                                                             ert das Motorboot die Geschwindigkeit und die Mentalität der Eile und Wirtschaft -
                                                                             lichkeit. Nach Aufmerksamkeit lechzend, sendet es seinen visuellen Reizen bereits aku-
                                                                             stische voraus. Sich bewundernden Blicken sicher, bohrt es sich sogleich in die erste
                                                                             Stütze und noch bevor das Heck überhaupt in ihrem Rücken verschwunden ist, hat der
                                                                             Bug ihren Schatten bereits wieder verlassen. Kaum einen Augenschlag später wieder-
                                                                             fährt der zweiten Stütze das gleiche Schicksal. Zurück bleibt lediglich eine Spur gebro-
                                                                             chener Wellen, die von der Bezwingung der Natur durch den Menschen zeugt. Die
                                                                             Motorboote und ihre Lärmverschmutzung sind wie falsche Töne in der Symphonie, die
                                                                             Jørn Utzons Haus mit dem Ort spielt, dem Einklang, den die ritualisierten Abläufe der
                                                                             Nutzung mit dem natürlichen Zyklus der Natur verbinden. Ich stelle mir vor, wie der
                                                                             Däne auf der Mauer fünf Meter vor mir sitzt und auf die Rümpfe der dröhnenden
                                                                             Ungeheuer schießt, um sie der Stille des Meeresgrundes zu übergeben. Ob er sich auch
                                                                             so an ihnen gestört hat wie ich? Oder was ist mit dem Haus? Fühlt sich Can Lis von
                                                                             ihnen gestört, seit nunmehr bald 50 Jahren? Fragend wende ich meinen Blick vom
                                                                             Meer zu ihm. Es steht einfach nur seelenruhig da. Unbeeindruckt ruht es auf den siche-
                                                                             ren Felsen. Beinahe altruistisch kommt es mir in dem Moment vor. Es fühlt sich nicht
                                                                             gestört, es  verlangt nichts. Es  verlangt keine Aufmerksamkeit. Es existiert, um  zu
                                                                             geben, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. [...]


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