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Dr. Andrea Seelich


                                     1969 geboren in Prag 1991–1998 Architekturstudium, Hochschule für Kunst und Gewerbe in Prag 2001–2007 Dissertation „Die architektonische Definition einer Justizanstalt“, Technische
                                     Universität in Wien 2001–2003 Angestellte der Generaldirektion des tschechischen Gefängnisdienstes in Prag seit 2009 zahlreiche Wettbewerbe und Projekte des Strafvollzuges europaweit
                                     2009 Buchveröffentlichung “Handbuch Strafvollzugsarchitektur: Parameter zeitgemäßer Gefängnisplanung” seit 2016 selbstständige Konsulentin für das Justizministerium in Prag







                heit und Sicherung sind, bieten durch ihre strikten  Vorgaben auf den ersten Blick nur  wenig gestalterische
                Möglichkeiten. Umso wichtiger ist es, sich mit der Formgebung, der eigentlichen Architektur auseinanderzusetzen.
                Dies ist  jedoch nur nach einer eingehenden  Analyse aller Kompo nenten (Gesetze, Tätigkeiten, Räume,
                Verbindungen, Strafvoll zugs arten, Insassen, Personal etc.) möglich. In dem Buch „Jugendstrafvollzug – Vorsorge
                statt Nachsorge“ haben es Licker, Schoenmakers und Sigmund so formuliert: Die bestehende  Vielfalt der
                Vollzugsarten, zum Beispiel geschlo ssener, halboffener und offener  Vollzug, die erforderliche Trennung  ver-
                schiedener Vollzugs stufen und der Geschlechter  erzeugen organisatorische  und bauliche Probleme, die den
                Vollzugsanstaltsbau  zu  einer  ebenso  komplexen  wie  diffizilen  Aufgabe  werden  lassen. In  der  begrenzten
                Flächenausdehnung der zur Verfügung stehenden Gebiete muss für „alle“ Lebensbedingungen und -gewohnheiten
                gesorgt werden – für die aus ihrer sozialen Umwelt zeitweilig ausgeschlossenen Menschen. Auch wurde noch die
                Forderung, dass die gebotene Sicherheit mit möglichst wenig Personal gewährleistet sein muss und dass der Betrieb
                und die Bewirtschaftung auf jeden Fall so rationell wie möglich organisiert werden, vom Gesetzgeber aufgestellt.
                (Licker, Schoenmakers und Sigmund 1973, S. 71) Eine Strafvollzugsanstalt kann man sich demnach als einen leben-
                den Organismus  vorstellen, der aus  vielen einzelnen Komponenten, „Organen“ (Wohnbereich,  Arbeits bereich,
                Sicher heitszentrale, Werk stätten, Administration und so weiter) besteht, die ihre Eigenheiten haben, die miteinan-
                der verbunden sind. Nicht nur räumlich durch Gänge, Fenster und Türen, sondern auch funktional (zum Beispiel
                Wohnbereich und Küche, Aufnahme und Kleiderkammer und so weiter). Die Verbindung der einzelnen Bereiche
                spielt eine enorme Rolle, denn sie entscheidet darüber, wie aufwendig die einzelnen Bereiche mit Menschen und
                Waren (Nahrungsmittel, Wäsche, Abfall, Werkstücken etc.) versorgt werden können.

                Vier architektonische Basis-Werkzeuge zur sinnvollen Gefängnisgestaltung
                                                                                                  Eine neutrale Haftraumgestaltung kann eine ausgleichende Grundlage bieten.
                Im Gegensatz zu einem “normalen Bau“, in dem sich der  Architekt aller Materialien und  räumlichen  Aus -
                drucksmittel bedienen kann,  um  eine  möglichst angenehme  Atmosphäre herzustellen,  muss er sich in der
                Strafvollzugs archi tektur den  spezifischen Gegebenheiten (vor allem der Sicherheit und dem Freiheitsentzug)
                anpassen. Mehr Licht und Behaglichkeit sowie dadurch geeignetere Wohn- und Arbeitsbedingungen lassen sich mit
                einer geeigneten Material-, Farb-, Licht- und Formwahl erreichen. Gerade unter den Bedingungen des
                Freiheitentzuges ist deren Zusam menspiel und Wirkung dominant. Die technologische Entwicklung hat besonders
                im letzten Jahrhundert viele neue Baumate rialien auf den Markt gebracht. Diese können, wenn sie richtig eingesetzt
                werden, einen wichtigen Beitrag zum reibungslosen Strafvollzugsalltag liefern. Eigenschaften wie haptische Qualität
                und Hygiene sind selbstverständlich und werden hier deshalb nicht näher erörtert. Die Kriterien der Verwendung
                der Baumaterialien in der Strafvoll zugs architektur haben sich in den letzten Jahren kaum verändert. Es sind dies
                nach wie vor: Sicherheit, Wirt schaft lich keit, Erhaltung und Erneuerung. Deshalb sind weitgehend Materialien zu
                                                                                                  Der Isolationsraum dient für kurze Zeiträume zur Beruhigung des Insassen.
                bevorzugen, die in den Hand werkstätten der Anstalt von den Insassen repariert werden können (zum Beispiel Holz).
                Der pädagogische Wert der Reparaturen durch Insassen stellt eine  weitere schwer ersetzbare Qualität dar. Die
                Instandhaltung der Strafvollzugsanstalten erfor dert eine regelmäßige Erneuerung der Wand- und Türfarbe. Diese
                Arbeiten werden unter Anleitung des Personals meist von den Insassen erledigt. Seit den 1970er-Jahren lässt sich
                beobachten, wie die Farb wahl als Zeichen der Liberalisierung immer öfter den Insassen oder dem Anstaltspersonal –
                das bedeutet architektonischen Laien – überlassen wurde. Sie greifen selten auf den ursprünglichen, vom Archi tek -
                ten der Anstalt festgele gten Farbton zurück. Dieser Farbton war meist gebro chen und in einer höheren Potenz ange-
                siedelt.  Die aktuelle  Farbwahl  ist  fast  immer  zu kräftig  und  von  der  strafvollzugsinternen  Diffe renzierung  der
                Insassen beeinflusst.  Aus den Medien ist uns meist ein Bild der Strafvoll zugs anstalten in Schwarz-Weiß in
                Erinnerung. Dieses stilistische Mittel soll die Trostlosigkeit unter streichen, doch ist die „bunte“ Wirklichkeit oft noch
                trister. Viele verschiedene „Muster“ in den unterschied lichsten Farben ergeben eine Unruhe und eine Unbe hag -
                lichkeit, die sich in Frei heit kaum wiederfinden lassen. Weiß ist eine neutrale Lösung, die mit allen andern Farben
                harmoniert. Der Haftraum wirkt sauber und ordentlich, bis ein Häftling kommt und ihn bewohnt. Schnell werden
                die Widersprüche zwischen den theoretischen Vorstellungen und der praktischen Nutzung sichtbar. Wie schon bei
                der Material auswahl steht auch bei der Formwahl der einzelnen Räume die Sicher heit an erster Stelle. Sicherheit
                bedeutet hier vor allem: Sicherheit der Insassen voreinander (Schikane), Sicher heit der einzelnen Insassen vor sich
                selbst  (Suizidgefahr)  und  Sicherheit  des  in  den  Haftraum  eintretenden  Personals. Die  Aufwertung  bestehender
                Hafträume durch nachträglichen Einbau von WC und Wasser an schlüssen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
                hat auch bei Neubauten nicht zu einer  Veränderung der Haftraumform geführt. Sie hat aber erheblich zu der
                Veränderung der Wohnraumform des Haftraumes beigetragen. Nach den heutigen Anfor derungen sowie der Analyse
                der bisher gebauten Hafträume und deren Nutzung steht fest, dass ein Haftraum aus zwei Räumen bestehen muss:



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