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Gruppe auf Rädern
                                                                        von • by Jürgen Wittdorf

                                                                        sammlung-juergen-wittdorf.de
                                                                        galerie.sammlungamann.com/de



                                                                        Wittdorfs Arbeiten sind dokumentarisch, nicht nur, weil sie alltägliche

                                                                        Szenen festhalten, sondern auch, weil sie von den Möglichkeitsräumen

                                                                        und deren Grenzen  zeugen, die sich innerhalb der SED-Diktatur

                                                                        für KünstlerInnen erschlossen. Sie erzählen somit auch über ein

                                                                        Künstlerleben in einem politischen System,  welches sehr stark in

                                                                        die künstlerische Praxis hineingewirkt hat. Im Zyklus für die Jugend,

                                                                        der 1963 als Mappenwerk in einer Auflage von 10.000 Exemplaren

                                                                        im  Verlag  Junge  Welt  erschienen  ist,  schlägt  Wittdorf  eine  Brücke


                                                                        zwischen der Jugendkultur in Ost und West. Die dadurch entstandenen
                                                                        Diskussionen über eine „Verwestlichung“ zeigen sehr gut, in welchem


                                                                        Spannungsfeld die Arbeit der KünstlerInnen in der DDR stattgefunden

                                                                        hatte. Mit dem Mauerfall hatte Wittdorf plötzlich keine Aufträge mehr

                                                                        und hat sich dann bis an sein Lebensende mehr recht als schlecht

                                                                        durchgeschlagen, war später stark an Demenz erkrankt und verstarb

                                                                        2018  in  Berlin-Friedrichshain.  Als  nach  der  Wende  verschiedene

                                                                        Ausstellungen seiner Arbeiten zum Beispiel im Schwulen Museum

                                                                        2004, 2008, 2012, im KVOST 2020 oder eine große Schau im Schloss

                                                                        Biesdorf 2022 gezeigt wurden, gingen schnell Schubladen auf, in die er

                                                                        gesteckt wurde. Er wurde zum Beispiel als „Tom of Finnland der DDR“

                                                                        bezeichnet oder wird immer wieder auf die queere Kunst reduziert.

                                                                        Man tut dem Werk Wittdorfs damit Unrecht, denn es ist viel breiter

                                                                 Sammlung Wittdorf/Studio Galerie, Berlin / Galerie Sammlung Amann, Stuttgart  oder  Kinder  im  Zoo,  erweitern  sein  Arbeitsspektrum.  Außerdem
                                                                        angelegt.  Zahlreiche  seiner  Tierstudien,  z.B.  der  Zyklus  Tiermütter



                                                                        hat er  zahlreiche Kinderbücher illustriert und ein umfangreiches

                                                                        keramisches Werk hinterlassen. Sein Nachlass konnte durch einen

                                                                        glücklichen Umstand durch Jan Linkersdorff von der Studio Galerie

                                                                        Berlin gerettet und erhalten werden.                Karl Amann, Stuttgart


                                                                        Die Grafik „Gruppe auf Rädern“ stammt aus dem Zyklus für die Jugend von 1963
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