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REDINGS ESSAY
DIE STADT AUS LICHT
Ein Essay von Benjamin Reding
D a will ich hin!“ Sie sagte es freundlich, aber beunruhigend bestimmt. Und ich ja so gerne Fleisch!). „Da nehm´ ich meine Kühlbox mit kalten Koteletts mit!“ „Und es
dachte: Oh nein, bitte nicht ... und ich sagte: „Oh, das ist ja schön.“ Frau Sefkow
wird viel geraucht!“ (Sie war überzeugte Nichtraucherin). „Na, es ist ja unter freiem
hatte ich im Hausflur getroffen. Sie goss die Petunien im ersten Stock. Frau Sefkow Himmel, das halte ich schon aus.“ „Und nicht nur Zigaretten…“ „Ja, auch Zigarren?“ Ich
wohnte im dritten, aber im ersten hat sie ein Blumenfenster angelegt, „damit alle was stöhnte, es war aussichtslos. Dann, ein letzter Rettungsgedanke: „Aber was machen Sie
davon haben.“ Alle im Haus hatten auch etwas von ihrer Katze, „Roberta“, die frei in mit Ihrer Katze?!“ Frau Sefkow lächelte. „Roberta? Ach, die kommt so lange zu Frau Gül-
den verwinkelten Altbaufluren herumstromern durfte (aber leider nicht ganz stubenrein can in den zweiten Stock“. Das hatte ich vergessen, sie stand ja mit allen im Haus, auch
war) und vom Duft ihrer Kochkünste (gerne Sauerbraten mit Kohl) und von ihrer Musik. mit der streng gläubigen, im Treppenhaus stets Kopftuch tragenden Frau Gülcan, auf
Sie liebte Klassik. Von der bombastischen Sorte. In saftiger Lautstärke: Beethoven, gutem Fuße. Dann, sie betrachtete durch die gesprungenen Scheiben ihres Blumenfen-
Brahms, Wagner, Rachmaninow. Und Hits von Queen, Abba und Helene Fischer in sym- sters den wolkenverhangenen Hinterhof-Himmel, fragte sie: „Ist es schön?“ Und ich ant-
phonischer Orchestrierung. Aber mehr noch als all das liebte sie Robert Schumann, den wortete: „Ja“, und ärgerte mich über mein ehrliches „Ja“. „Ja, es ist schön. Die Tanzflä-
sie aber nur „Robert“ nannte. „Andere gehen zum Ausspannen schwimmen oder was chen und Bühnen sind liebevoll mit viel Holz, Pflanzenwuchs, Leinenstoff und Farbe ge-
Schickes essen oder fahren in Urlaub... Ich gehe lieber ins Konzert, zu Robert! Bei seiner staltet. Wie Feenpaläste aus zerlesenen Märchenbüchern, wie geheime, die Baumwipfel
Rheinischen Symphonie bekomme ich Gänsehaut.“ Wenn sie davon erzählte, absichts- des Dschungels überragende Tempelanlagen einer fernen Südseeinsel schaut es aus.“
voll leise und stimmlich bewegt, klang es, als sei Robert mit ihr eng befreundet, ja viel- Die Erinnerung riss mich weg. „Am schönsten aber wird es nachts. Dann erglimmen tau-
leicht sogar mehr als das. Einen realen Robert gab es in ihrem Leben, soweit man derlei sende Lichter, mal als Fläche im Dunst der Nebelmaschinen, mal als zuckendes, herz-
als Nachbar mitbekommt, nicht. Ihr letzter Freund hatte sich vor Jahren lautstark von schlaghaft dauerpulsierendes Stroboskoplicht, mal als sich sanft im Wind wiegende,
ihr getrennt und danach im Treppenhaus, besonders bunt leuchtende Punkte in Hunderten Lampions. Dann
auf dem Absatz des Blumenfensters, wild randaliert. verwandelt sich das Festivalgelände in eine Stadt aus
„Der war nicht nett, Männer sind sowieso nie nett“, Licht.“ „Unglaublich“, flüsterte Frau Sefkow. „Dann
seufzte sie und betrachtete konzentriert die Petunien. scheint es fast so, als wären die Architekturfantasien
Warum nur hatte ich Frau Sefkow von dem Festival er- Erich Mendelsohns, der so gerne Bach-Kantaten in Ent-
zählt? Ihr, der gemütlichen Mitfünfzigerin, der ich sonst wurfskizzen verwandelte, gebaute Realität geworden.“
wenig mehr als ein „Hallo“ oder „Schönes Wetter Ich weiß nicht, ob sie Erich Mendelsohns Skizzen
heute“ mitteilte, wenn man sich zufällig im Hausflur kannte, aber sie nickte freudvoll. „Gibt es ...“, sie zö-
traf. War der Auslöser vielleicht diese eine Hanfpflanze gerte mit der Frage, suchte an einer Petunie nach wel-
gewesen, die irgendein Spaßvogel zwischen ihre Petu- ken Blättchen, „ ... gibt es da auch Männer?“ Ich
nien gesetzt hatte („Das ist aber ein seltsames Basili- schaute zu ihr herüber. „Ich meine ... nette Männer?“
kum“, hatte Frau Sefkow gesagt), oder ihre neue, „Äh ..., ja, natürlich ... Männer, Frauen, viele, viele,
schwarz-bläuliche Korkenzieherlockenfrisur, die mich spannende, freundliche, friedfertige Menschen aus
an die Tagesschaubilder längst vergangener Lovepa- allen Winkeln der Welt. Sie tanzen, lachen, lassen Dra-
rades erinnerte, oder waren es die Klänge von Marusha chen steigen, bemalen ihre Gesichter mit Glitzer, umar-
oder Scooter oder von irgendeinem anderen Kirmes- men sich, küssen sich, lieben sich, sind glücklich und
Techno-Hit, den ich im Morgenradio ertragen hatte? Foto: Benjamin Reding tanzen in rauschhafter Ekstase, manche sogar nackt.“
„Schön, dass Sie dort eingeladen sind!“ Frau Sefkow „Oh ...“, sagte Frau Sefkow, „Guten Tag!“, sagte Frau
blickte von den Petunien zu mir hoch. Ah ja, es war Gülcan und stapfte, mit ernster Mine und Einkaufstü-
diese Mail heute im Posteingang! Davon hatte ich ihr in stolzem Überschwang erzählt: ten bepackt, an uns vorbei. Wir hatten sie nicht bemerkt. Und plötzlich dachte ich, ach,
Die Einladung der Festivalveranstalter, ich solle mein aktuelles Fotokunstwerk, wand- was macht das schon, dann soll Frau Sefkow doch mitkommen, mit ihrer Thermos-
große Fotoabzüge der ersten „Techno-Raves“ aus den 1990ern dort in einem Flugzeug- kanne und den geschmierten Wurstbroten und ihrer Schumann-Kassette, und sich
hangar präsentieren. „Ich packe für uns Stullen ein und ordentlich Schrippen und eine freuen, unbeschwert und glücklich, im Meer der wogenden Köper versinken, für die drei
Thermoskanne voll Glühwein! Und dann nehm´ ich noch meinen Walkman mit (Ja, sie Festivaltage. Ihre Stimme holte mich ins Treppenhaus zurück: „Ich kann auch die Tank-
sagte `Walkman´.) und höre Roberts Rheinische, wenn mir die Musik da mal nicht so füllung zahlen und das Hotel.“ „Hotel?“ „Na, für das Festival.“ „Nein, da gibt es kein
gefällt!“ Oh, wehe Ihnen, Frau Sefkow! Ihr würde die „Musik da“ wahrhaftig nicht ge- Hotel, man schläft draußen im Zelt, im Auto oder unter dem Sternenhimmel. Aber viele
fallen. Für die meisten ist es Krach. Immer noch. Für die Insider jedoch längst „Forrest“ schlafen gar nicht, die tanzen einfach durch.“ „Und wo … wo duscht man sich dann?“
„Deep House“, „Jungle-Terror“, „Ethno-Trance“, „Psy-Trance“ oder „Hardstyle“, aber „Na, in der Gemeinschaftsdusche zwischen den Bäumen unter freiem Himmel.“ Frau
lange schon nicht mehr „Techno“. Und wenn, dann wenigstens „Tekkno“. „Es wird aber Sefkow wurde still. Sie betrachtete ihr Spiegelbild im Treppenhausfenster, lange, kri-
anstrengend, Frau Sefkow.“ Ich war vor Jahren das erste Mal dabei: drei erschöpfende, tisch. Dann schaute sie an sich herunter, dann zu mir. „Ach, das hab ich ja ganz verges-
Menschen-wuselnde, dröhnend lärmige Tage, weit draußen in der Mecklenburger Ein- sen, nächste Woche spielen sie Schumann, die „Rheinische“ in der Philharmonie, dafür
öde, zwischen den bröckelnden Betonhangars eines aufgegebenen russischen Militär- hab´ ich schon eine Karte.“ Sie ergriff die Gießkanne und nahm mühsam die ersten Stu-
flughafens. „Es ist laut und voll und oft unbarmherzig heiß“, warnte ich. „Ha, das macht fen zum nächsten Treppenabsatz. „Frau Sefkow?“ „Ja ...?“ „Kommen Sie mit! Bitte!“ Das
nix, ich hab doch einen Sonnenschirm auf dem Balkon, den nehmen wir mit!“ Ich legte Festival war wie immer: anstrengend, übervoll, überlaut, brütend-heiß. „Es war groß-
nach: „Frau Sefkow, dort wird nur veganes und vegetarisches Essen angeboten“ (Sie aß artig!“, sagte Frau Sefkow nach ihrer Rückkehr.
058 • AIT 11.2022