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Entwurf • Design David Chipperfield Architects, Berlin
                                                                              Bauherr • Client Stiftung Sanatorium Dr. Barner
                                                                              Standort • Location Dr.-Barner-Str. 1, 38700 Braunlage/Harz
                                                                                                                                          Foto: Ingrid von Kruse
                                                                              Nutzfläche • Floor space 10.500 m 2
                                                                              Fotos • Photos Ute Zscharnt (1, 2, 3, 5) und Christian Konrad (4, 6–9)
                                                                              Mehr Infos auf Seite • More infos on page 142


































                Blauer Speisesaal mit restaurierter Leimdrucktapete • Blue dining room with restored glue print wallpaper  Sitzmöbel und Tisch von Albin Müller im Musiksaal • Seating furniture and table by Albin Müller

                von • by Bettina Schürkamp
                W    ie Nadelstiche ziehen sich die Erhaltungsmaßnahmen von David Chipperfield  ner spiegeln den Übergang vom Jugendstil hin zur geometrischen Abstraktion der Mo-
                     Architects durch das Jugendstil-Sanatorium Dr. Barner in Braunlage, das im Jahr
                                                                              derne wider. Während die Gestaltung der funktionalen Bereiche bereits durch die Ra-
                2018 mit dem „Europa Nostra Award“ ausgezeichnet wurde. Der höchste europäische  tionalität des 20. Jahrhunderts beeinflusst wurde, prägen die repräsentativen Aufent-
                Denkmalpreis würdigte in der Kategorie „Erhaltung“ insbesondere die unsichtbare  haltsräume traditionelle Gestaltungselemente wie Stuckdecken, Kristallleuchter und
                Handschrift der Architekten, mit der sie die Gestaltung des Gesamtkünstlers Albin Mül-  ein Parkett aus Mooreiche.
                ler wieder erlebbar machten. Wie kaum ein anderes Denkmal aus dem Jugendstil er-
                möglicht der vollständige Erhaltungszustand von Einrichtung und Mobiliar eine Zeit-  Instandsetzung der kleinen Schritte
                reise in die Jahre der Entstehung. Das letzte in Deutschland erhaltene Grandhotel-
                Sanatorium wurde im Wesentlichen von 1905 bis 1914 erbaut und wird seither durch-  Eine der großen Herausforderungen von David Chipperfield Architects bestand darin,
                gehend als Fachkrankenhaus für Psychosomatik und Psychotherapie genutzt. Das In-  die große Palette von Oberflächen und Materialien im Stil des späten Darmstädter Ju-
                standsetzungskonzept von David Chipperfield Architects aus dem Jahr 2007 erfasste in  gendstils originalgetreu instand zu setzen. Ein besonderes Highlight des Ausstattungs-
                einer sorgfältigen Kartierung den von Albin Müller entworfenen Originalbestand in  spektrums sind die sehr seltenen linoleumähnlichen Wandtapeten, auch Linkrusta ge-
                über 60 Patientenzimmern, der zentralen Halle und den aufwendig gestalteten Aufent-  nannt, die bis heute erhalten sind und von Spezialisten aufwendig restauriert wurden.
                haltsräumen. Drei Speisesäle, der Musiksaal, das Damenzimmer und das Vestibül bil-  Im blauen Speisesaal hatte sich die Leimdrucktapete punktuell von der Wand gelöst
                den eine Sequenz von Räumen mit äußerst seltenen Ausstattungselementen wie Lin-  und erstrahlt nach der Ausbesserung der Fehlstellen wieder in ihrer ursprünglichen
                krusta-Wandbekleidungen, Inlaid-Linoleumböden und Leimdrucktapeten. Ziel der  Ausdrucksstärke. Neben hoch spezialisierten Restaurierungen ergänzen auch rekon-
                Maßnahmen war die sorgfältige Instandsetzung der Originalsubstanz, der Rückbau von  struierte Ausstattungselemente die Instandsetzung. Im ehemaligen Wintergarten wurde
                unangemessenen Sanierungsarbeiten und die Wiederherstellung des ursprünglichen,  unter einem weißen Wandanstrich die originale Farbgebung von Albin Müller befun-
                authentischen Erscheinungsbildes mit möglichst geringen Einschränkungen für den  det. In einer aufwendigen Rekonstruktion wurden die schablonierten Wandfassungen
                durchgehenden Klinikbetrieb. In sechs Umsetzungsphasen wurden von 2010 bis 2017  wiederhergestellt, die die monochromen roten Wandflächen einrahmen. Der Wolltep-
                Restaurierungs- und Erhaltungsarbeiten im Innen- und Außenraum mit einem Gesamt-  pich im Damenzimmer mit einem floralen Muster wurde ausgetauscht und in einem
                umfang von über 3,5 Mio. Euro realisiert.                     aufwendigen Digitalisierungsprozess täuschend originalgetreu rekonstruiert. Für die
                                                                              Patientenzimmer wurde die ursprüngliche Tapete mit einem Streifenmuster in einer
                Gesamtkunstwerk aus Grafik, Design und Architektur             beigen Farbgebung nachempfunden. Albin Müller gestaltete für die Delmenhorster Li-
                                                                              noleum-Fabrik AG, auch „Anker“-Marke genannt, Inlaid-Linoleumböden mit geometri-
                Albin Müller, der sich auch Albinmüller nannte, wurde unter anderem durch seine lei-  schen Motiven auf dunklem Grund, die bis heute in einem sehr guten Originalzustand
                tende Position innerhalb der Darmstädter Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe be-  in fast allen Räumen verlegt sind. In der reichhaltigen Bandbreite von Instandsetzungs-
                kannt. Der Jugendstilkünstler lernte den Gründer Dr. Friedrich Barner als Patient wäh-  maßnahmen, die sich nahtlos in den Originalbestand einfügen, hinterließen David
                rend eines Klinikaufenthaltes kennen und wurde im Jahr 1905 mit der Planung des Sa-  Chipperfield Architects mit neuen Industrieheizkörpern oder auch monochrom grau
                natoriums beauftragt. In zwei Jahrzehnten entstand ein Gesamtkunstwerk mit einem  gestrichenen Flächen im Flur dennoch minimale Spuren. Auch wenn diese Ergänzun-
                breit gefächerten, grafischen Spektrum für Möbel, Architektur wie auch Wand- und Bo-  gen erst auf den zweiten Blick mit der Lupe auffallen, bereichern sie als zeitgemäße
                denbeläge. Die Entwürfe des Designers und Raumkünstlers für das Sanatorium Dr. Bar-  Spuren die gewachsene Patina dieses einmaligen Baudenkmals.

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