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Obwohl der Toilettengang für jeden unerläss-  gienischen Verhalten  diszipliniert,  was  die   und daraus alternative Gestaltungselemen-
                  lich ist, wird in der westlichen Gesellschaft   öffentliche Akzeptanz von Toilettenräumen   te abzuleiten, die das Wohlbefinden und eine
                  von klein auf ein Bewusstsein  vermittelt,   als Notwendigkeit verstärkte (Furrer 2004).   inklusivere Nutzung öffentlicher Toiletten für
                  dass Exkremente aufgrund ihres historischen   Die „Toilette“ als Einrichtung wurde zuneh-  alle Nutzer*innen fördern sollen.
                  Zusammenhangs mit Krankheit abstoßend   mend thematisiert,  gleichzeitig wurden
                  sind und daher  weggespült und  tabuisiert   Exkremente aus dem Blickfeld gespült und   Literatur
                  werden müssen (Wilson 2016).           Scham in Ekel gewandelt.              Furrer, Daniel (2004): Wasserthron und Don-
                  Durch diese kulturelle Prägung ist die Gestal-                               nerbalken. Eine kleine Kulturgeschichte des
                  tung zahlreicher öffentlicher Toiletten hier-  Jahrzehntelang konnten die floralen vikto-  stillen Örtchens. Darmstadt: Primus Verlag.
                  zulande stark beeinflusst. Bei Entwurf und   rianischen  Toiletten  nicht  ersetzt  werden,   Horan, Julie L. (1997): The porcelain god. A
                  Planung findet die scheinbare Verlässlichkeit   jedoch  begannen  ab  1863  weiße  Oberflä-  social history of the toilet. Secaucus: Carol
                  von Handbüchern und Standards allzu oft   chen, Sauberkeit zu symbolisieren (Penner   Publishing Group.
                  Anwendung, um sich nicht weiter mit „sol-  2013). Toilettenarmaturen wurden verwen-  Kira, Alexander (1976): The bathroom. New
                  chen Orten“ beschäftigen zu müssen, was   det, um moderne Werte wie „form follows   York City: Viking.
                  fatal für den Raum und die Anforderungen   function“ zum Ausdruck zu bringen. Die Toi-  Koolhaas, Rem;  Westcott,  James; Peter-
                  seiner diversen Nutzer*innen ist. Gleichzei-  lette wurde so Gegenstand strenger äuße-  mann, Stephan (2014): Elements of architec-
                  tig ist es paradox, einen Raum, der in sei-  rer Regulierungen, und selbst das Bauhaus   ture. Toilet. Venezia: Marsilio Venice.
                  ner Funktion alle Menschen ausnahmslos   verwendete standardisierte Toiletteneinrich-  Penner, Barbara (2013): Bathroom. London:
                  betrifft, innenarchitektonisch dermaßen zu   tungen, die sich nur marginal voneinander   Reaktion Books.
                  vernachlässigen.                       unterschieden. Toiletten  wurden fortan so   Scott  Brown,  Denise  (1967):  Planning  the
                                                         konzipiert, dass sie kostengünstig und stra-  Powder Room. In: Journal of the American
                  Um den Ursprung dieses Problems zu verste-  pazierfähig waren.  Architekturbibeln wie   Institute of Architects, S. 81–83.
                  hen, hilft ein Blick auf die Historie öffentli-  „Neufert“ etablierten die Nutzerstandardi-  Wilson, Ara (2016): The infrastructure of inti-
                  cher Toiletten:                        sierung. Je mehr äußere Faktoren die Toilet-  macy. In: Signs: Journal of Women in Culture
                  In mittelalterlichen Städten gab es öffent-  tengestaltung prägten, desto mehr verließen   and Society 41 (2), S. 247–280.
                  liche Latrinen, als kleine Alkoven am Rande   sich Planer*innen auf Normen und Vorschrif-  Žižek, Slavoj (1997): The plague of fantasies:
                  von Gassen und auf Brücken (Horan 1997).   ten, anstatt selbst kreativ zu werden. Bereits   Verso.
                  Die  Exkremente  fielen  entweder  auf  die   in den 1960er-Jahren wurde dieser Zustand
                  Straße, in  Jauchegruben oder in Gewäs-  kritisiert, und in den 1970er-Jahren erlang-
                  ser (Koolhaas et al. 2014). Körperliche Aus-  ten schließlich die Bedürfnisse von Menschen
                  scheidungen waren ein natürlicher Teil des   mit Behinderungen zunehmend Beachtung
                  Stadtbildes, oft jedoch für Krankheit und Tod   in der Toilettengestaltung – leider mit einem
                  verantwortlich.                        ausschließlichen Fokus auf Gehbehinderun-
                                                         gen (Scott Brown 1967; Kira 1976).
                  Das  viktorianische  England  veränderte  die
                  Wahrnehmung  von  Exkrementen  grundle-  Obwohl  die  Probleme  öffentlicher  Toilet-
                  gend. Die moralischen Vorstellungen Königin   ten und ihr  Stand unter deutschen Pla-
                  Viktorias dienten den Bürger*innen als Vor-  ner*innen  offensichtlich  sind,  hat  sich  die
                  bild (Horan 1997). Der Körper wurde als rein   breite Masse  der  Toilettenräume  in der
                  wahrgenommen, was  im völligen  Gegen-  Praxis bis heute nur marginal im Hinblick
                  satz  zu  den  natürlichen  Einstellungen  zur   auf  die  unterschiedlichen  Bedürfnisse  der
                  Darmentleerung  stand  (Penner  2013).  Ein   Geschlechter angepasst. Ungeachtet der all-
                  Schamgefühl gegenüber Körperfunktionen   gemeinen Erkenntnis, wonach beim „Erleich-
                  entwickelte sich, das absolute Privatsphä-  tern“ offenbar alle gleich sein mögen, sind
                  re verlangte. Öffentliche Klohäuschen ent-  neben körperlichen eben auch kulturelle
                  standen nun als sogenannte „Cottages“,   Unterschiede zu  verzeichnen. Diese kultu-
                  kleine Häuschen, die sich „verschleiernd“   relle Ideologie findet ihren Weg sogar bis auf
                  in das  Stadtbild einfügten. Im Innenraum   das stille Örtchen (Žižek 1997). Dort treffen   Samira Müller ist freie Innenarchitektin, Lehr-
                  wurden Toilettenräume floral dekoriert, um   kulturelle Prägungen und genormte Gestal-  beauftragte und Forschende. Sie studierte in
                  dem Schamgefühl entgegenzuwirken (Pen-  tungen  aufeinander.  Deutsche  öffentliche   Trier,  Taipei und Rotterdam und gründete
                  ner 2013). 1885 entwarf Cummings das erste   Toilettengestaltung erkennt nicht an, dass   2022 ihr eigenes Studio. Ihre teils ausgezeich-
                  Wasserklosett, das sich in der Folge schnell   die Nutzer*innen aus diversen kulturellen   neten Projekte im Retail-, Hospitality- und
                  verbreitete. Die neuen Sozialreformen führ-  Hintergründen kommen und daher diese   Residentialdesign heben sich durch konzep-
                  ten  darüber  hinaus  zur  Schaffung  einer   Räume auch völlig unterschiedlich nutzen.  tionellen  Entwurf  und  eine wissenschafts-
                  gesünderen Umgebung durch Sanitärinstal-                                     bezogene  Herangehensweise  hervor.  2021
                  lationen und Kanalisation (Horan 1997).  Daran anknüpfend befasst sich das PhD-For-  begann sie ihre Promotion an der Birming-
                                                         schungsprojekt an der Birmingham City   ham City University. Ihre Forschungsarbeit
                  Durch  medizinische  Erkenntnisse  über  die   University mit kulturell unterschiedlichen Toi-  dreht sich rund um Toilettenräume und Klo-
                  Ursache von Krankheit und das Schamge-  lettenraumbedürfnissen. Ziel ist es, Erkennt-  kultur und wurde bereits auf Konferenzen in
                  fühl  wurden  die  Menschen  zu  einem  hy-   nisse  zu  diesen  Bedürfnissen  zu  gewinnen   London und Cardiff vorgestellt.


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