Page 130 - AIT1021_E-Paper
P. 130
BÜRO UND VERWALTUNG • OFFICE BUILDINGS THEORIE • THEORY
hen. Um dieses Ziel effektiv zu erreichen, müssten wir verstehen und messen können,
ob und welche Konzepte des neuen Arbeitens denn funktionieren. Gerade jetzt wäre eine
gute Zeit, Ideen zu entwickeln, die ein Wohlbefinden in kreativen Räumen im Büro und
damit Innovationskraft in der Zukunft sichern. Für viele Mitarbeiter waren die Erfahrun-
gen in Homeoffice in den letzten Wochen und Monaten alles andere als ideal. Schulen
geschlossen, Kinder zu Hause, das Internet – gerade in ländlichen Regionen – sehr lang-
sam. Wenig überraschend ist daher, dass es jetzt wieder eine Bewegung zurück ins Büro
gibt – auch wenn große Unternehmen, wie etwa Twitter, auch dauerhaftes Homeoffice
als Option anbieten. Aber diese Bewegung zurück in die vorhandene Bürowelt kann
auch nicht die Lösung sein. „Heimarbeit“ ist ein schrecklicher Begriff, eben weil darin
nicht die Möglichkeiten zum Ausdruck kommen, die damit einhergehen. Es geht dabei –
ebenso wenig wie beim Arbeiten im Unternehmen – nicht darum, das Arbeiten von zu
Hause festzunageln, sondern darum, individuell herauszufinden, wie und wo wir am
Foto: Wilkhahn kreativsten und produktivsten sind. Die Flexibilität, die die „Heimarbeit“ uns bietet, stellt
nauso gut ein Café, eine Bank im Park, bei einem Bekannten, im Hotel oder am Strand –
Das Homeoffice ermöglicht das Arbeiten von überall. • Home offices allow working from anywhere. eine Möglichkeit dar, von überall arbeiten zu können. Das kann zu Hause sein, aber ge-
oder eben ein Co-Working-Space. Flexibilität bedeutet nicht, alle diese Orte die ganze Zeit
durcheinander zu nutzen. Es bedeutet, dass wir unser Verhalten individuell so ändern
enorm reduziert, da sie mit Homeoffice und Videokonferenzen ihre Relevanz verlieren. und anpassen können, wie es für jeden Einzelnen Sinn macht. Von überall aus arbeiten
Die neuen Büros werden sich auf Fokuszonen, Co-Creation und informelle Begegnungen zu können bedeutet, dass wir uns die Orte für kreatives Arbeiten neu suchen und erar-
ausrichten. Die Bedeutung von Zwischenräumen und Gemeinschaftsflächen wird also beiten können, allein und mit anderen. Dies ist ein enormes Potenzial, das natürlich auch
zunehmen. Heimarbeit und Homeoffice als der Ort dafür waren erfolgreicher, als das je- das Homeoffice oder den Arbeitsplatz im Unternehmen mit einbezieht, aber weit über
mand hätte vorhersehen können. In zahlreichen Studien und Umfragen wurde unter an- den Dualismus dieser beiden Orte als einzige Möglichkeiten hinausgeht. Denn darum
derem festgestellt, dass die Produktivität in den ersten zwei Monaten des Lockdowns sollte es in erster Linie gehen, wenn wir uns mit solchen zukünftigen „dritter Orten” für
eher zugenommen hat. Das Interessanteste an einer Debatte über Homeoffice ist aber, kreatives Arbeiten beschäftigen: um unser Wohlbefinden, um eine Verbesserung des Ar-
welche Art von Büro sich Mitarbeiter wünschen, wenn sie dorthin zurückkehren. Bereits beitsalltages und um ein sinnhaftes Arbeiten. Nicht um mögliche Einsparungen für Un-
1968 hat der Designer Robert Probst eine Studie über die Arbeitsprozesse in der Wissens- ternehmen durch die Reduktion von Arbeitsplätzen und die Verkleinerung von Immobi-
arbeit durchgeführt und kam zu dem Ergebnis, dass das typische Büro „Lebendigkeit ab- lien oder die Frage, wer Kosten für den Netzwerkzugang unterwegs oder die Nutzung
schnürt, Talent blockiert (und) Anerkennung verhindert“. Auf der Basis dieser Erkennt- eines Co-Working-Space übernimmt.
nisse hat er gemeinsam mit George Nelson für Herman Miller das Action Office entwi-
ckelt, ein modulares Büromöbelsystem, das flexible Konfigurationen ebenso erlaubt wie Der Dritte Ort: co-kreativer Bereich für Wissensarbeit
einen Wechsel zwischen eher privat und öffentlich. Fast zwei Jahrzehnte später hat der
Architekt Robert Luchetti ein System entwickelt mit unterschiedlichen Orten, die Mitar- Die zukünftigen Kreativräume nach dem (Corona-)Homeoffice werden wohl genau die
beiter für unterschiedliche Tätigkeiten aufsuchen können. Damit legte er den Grundstein „dritten Orte“ sein, die wir uns selbst erarbeiten – weil wir sie nutzen wollen, sie uns
für das, was wir heute unter Activity-based Working verstehen. Sowohl das Action Office fördern, unterstützen und einfach gut tun. Der sogenannte „dritte Ort“ ist dann ein co-
als Möbelkonzept als auch das Prinzip des Activity-based Working waren dazu gedacht, kreativer Ort für Wissensarbeit, der als weiterer Ort neben dem Arbeitsort im Unterneh-
das starre Arbeiten an einem Schreibtisch im Büro zu verändern, und beide scheiterten men und im Homeoffice immer häufiger anzutreffen sein wird. Thema dabei ist es, den
am Ende wie viele andere Systeme. Denn Raum ist kein neutrales System, er steckt vol- Mitarbeitern eine Alternative sowohl zum täglichen Pendeln in eine Unternehmenszen-
ler Bedeutung und emotionaler Intelligenz, voller Möglichkeiten. Ob ein Bürokonzept die trale als auch zum Homeoffice ohne soziale Kontakte anzubieten. Dieser „dritte Ort“ ist
Menschen einsam macht oder Zusammenhalt fördert, hängt laut der Forscherin Kerstin eine Verbindung der Vorteile der beiden Arbeitsplätze im Unternehmen und im Home-
Sailer von der Bartlett School of Architecture immer von den räumlichen Gegebenheiten, office und bietet darüber hinaus weitere positive Aspekte: Verkleinerung von Unterneh-
der Organisationskultur, der Identifikation damit und dem Zugang der Menschen dazu menszentralen, da weniger Arbeitsplätze notwendig sind und diese mit größerer Distanz
ab. Mehr noch kann Raum niemals neutral sein, wurde er doch von Menschen bewusst angeordnet werden können; Reduzierung der Pendlerströme; eine engere Verknüpfung
für einen bestimmten Zweck entwickelt und ist nicht einfach so entstanden. der Menschen mit dem sozialen Umfeld am Wohnort; Ermöglichung einer Reaktivierung
von Angeboten im ländlichen Raum; Zugriff auf Fachkräfte aus dem ländlichen Raum
COVID-19 könnte ein Weckruf sein, Gelerntes zu hinterfragen für Unternehmen, ohne dass diese in urbane Regionen ziehen müssen, und Vereinbar-
keit mit unterschiedlichen Lebensmodellen von verschiedenen Generationen. Besonders
Forschungen zeigen, wie wichtig ungeplante persönliche Begegnungen für neue Ideen anschauliche Beispiele dafür sind Coworking im ländlichen Raum, exemplarisch darge-
und Innovation sind, und ebenso hat sich gezeigt, wie diese Begegnung durch die letzte stellt in „Urbane Dörfer – Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann“. Be-
Phase des Homeoffice reduziert wurden. Daher sollte das Konzept eines gemeinsamen treiber und Nutzer von Co-Working Spaces gehören schon immer zu denjenigen, die sich
Arbeitsortes für alle Mitarbeiter – mit vielfältigen Begegnungen – das Ziel für jedes Unter- automatisch mit der Zukunft des kreativen Arbeitens beschäftigen. Sie haben damit in-
nehmen sein. An diesen Orten kann dann gemeinsam iterativ erörtert werden, welche tuitiv Dritte Orte und somit eine neue Architektur der Arbeit geschaffen. In einer hybri-
Art der Gestaltung von Raum zur Kultur des Unternehmens, zu den Mitarbeitern und zu den Welt der Wissensarbeit gibt es viele Orte, wie Flughafenlounge, Hotellobby, Biblio-
ihren individuellen Bedürfnissen für die Entwicklung von Kreativität am besten passt. thek, Co-Working-Space, Ferienwohnung oder Campervan, die als „dritte Orte“ für Ar-
Im Büro von Gensler in New York wurde ein ganzes Stockwerk als ein „living lab“ kon- beit funktionieren. Viele dieser Orte sind „dritte Orte“ per Definition, und mehr und
zipiert, wo Teams mithilfe von Sensortechnologie alle möglichen Systeme des Büros tes- mehr Unternehmen entdecken sie als mögliche Arbeitsorte für ihre Mitarbeiter. Damit
ten können, um das für sie passende zu finden. Covid-19 und die Erkenntnisse aus der schaffen sie ein sehr dezentrales Angebot für zunehmend individuelle Menschen und
Zeit der Pandemie könnten ein Weckruf sein, mit dem vieles von dem hinterfragt wird, Lebensläufe ihrer Angestellten. Alle diese Orte fordern geradezu informelle und unge-
was wir jahrelang gelernt haben. Von der Art zu arbeiten über die Informationsbeschaf- plante Begegnungen heraus und unterstützen damit ein kreatives und intuitives Arbei-
fung bis hin zu Organisationsstrukturen. Die aktuelle außergewöhnliche Situation sollte ten. Damit könnten diese Orte und deren Nutzung einen signifikanten Beitrag dafür lei-
genutzt werden, um darüber nachzudenken, wie wir echte Resilienz erzielen können – sten, wie zukünftige Bürokonzepte gestaltet werden und wie ein neuer Standard des
nicht nur im Sinne von Nachhaltigkeit, sondern im Sinne von Widerstandsfähigkeit, An- multilokalen Arbeitens für zukünftige Generationen, weit über die aktuell sehr limitie-
passungsfähig und der Fähigkeit, gestärkt aus derartigen Schockmomenten hervorzuge- rende architektonische Bürolandschaft hinaus, definiert sein könnte.
130 • AIT 10.2021