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Mark Nicholas Phillips                                       Angelika Donhauser

                                  bis 1998 Studium Architektur Uni Kaiserslautern, Glasgow, Rom, Atlanta  1995–1999 Studium Innenarchitektur Dipl. Ing. (FH) 2010–2011 Ausbildung
                                  seit 1998 Projekte, Lehraufträge 2011–2012 Vertretung HfT Stuttgart 2012  Mediator Bau 2008–2019 Landau + Kindelbacher, München seit 2017 Lehr-
                                  Professur HS Coburg seit 2014 Forschungsgebiet Büroumgebungen 2016 For-  bauftragte FH Coburg seit 2020 Büro Kinzo Berlin, Standort München, Ver-
                                  schungsarbeit „Kollisionen – Raum für Kreativität und Innovation im Büro“  öffentlichungen und Vorträge über „Neue Arbeitswelten“





             Moderne Wissensarbeiter verbringen einen substanziellen Teil des Lebens beim Arbei-
             ten in Innenräumen am Heimarbeitsplatz („erster Ort"), in Besprechungen im Büro
             („zweiter Ort"), unterwegs und an einem “dritten Ort”. Der Begriff „dritter Ort” stellt
             eine Begriffsschöpfung für alle Orte für Büroarbeit dar und ist eine Übertragung von
             „Third Place” aus Ray Oldenburgs sozialwissenschaftlicher Veröffentlichung „A Great
              Good Place“. Das innenräumliche Arbeitsumfeld im Büro und auch außerhalb der klas-
              sischen Bürogebäude haben heute die gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz
             der Orte, die Oldenburg beschreibt, übernommen. Wissenschaftliche Studien zeigen
             unter anderem, dass physische Nähe, die durch das Zusammenkommen von Menschen
             in Büros entsteht, sowohl die Interaktion, Kommunikation zwischen Mitarbeitern als
             auch die Sichtbarkeit von Führungsrollen erhöht. Des Weiteren kann Raumgestaltung
              von physischen Räumen nachweislich Einfluss auf Kreativität haben. Ebenso hat die
              Möglichkeit der Individualisierung von Büroräumen messbaren Einfluss auf die Fehler-
              häufigkeit und Arbeitsgeschwindigkeit von Mitarbeitern im Büro, und es lassen sich Zu-
             sammenhänge zwischen Bewegung und Effektivität bei Besprechungen herstellen. Gut
             ablesbar sind diese Zusammenhänge in zwei Studien, die Prof. Craig Knight an der Uni-
             versity of Exeter respektive  Ben Waber, Jennifer Magnolfi, und Greg Lindsay am MIT
             durchgeführt haben. Bessere Ergebnisse wurden dann erzielt, wenn die Studienteilneh-
             mer ihren Arbeitsplatz individuell gestalten konnten beziehungsweise wenn sie in Be-
             wegung waren. Dies führte im letzten Jahrzehnt dazu, dass große Unternehmen im Be-  Foto: Schnepp Renou
             reich der Digitalisierung wie Apple, Facebook, Amazon oder Google moderne Architek-
              turbauten planten und errichteten, um die Wahrscheinlichkeiten physischer Begegnun-  Begegnungsorte beim Saatguthersteller KWS in Berlin von Kinzo • Meeting places designed by Kinzo
              gen und damit Kollaborationen zwischen Mitarbeitern zu erhöhen. Diese Idee der För-
              derung von physischen Begegnungen stammt unter anderem  aus der Tradition der
             Campus-Architektur, deren moderne innenräumliche Interpretation (ein ganzer Campus  Ort, und gerade dort funktionieren sie nur, wenn sie so gestaltet wurden, dass Störungen
             in einem Gebäude) und Umsetzung sich an historischen Beispielen wie etwa dem For-  möglichst vermieden werden. Dies bedeutet die Berücksichtigung von Akustik, Licht, Er-
             schungsgebäude des MIT der 40er-Jahre (Building 20), dem Engineering Building für die  gonomie und vielen anderen innenarchitektonischen Faktoren. Die Corona-Krise be-
             Leicester-University von James Stirling (1959) oder dem Rolex-Learning-Center von  schleunigt einen Trend, der sich in der Fachwelt der Büroplanung angedeutet hatte: Die
             SANAA-Architekten in Lausanne von 2010 ablesen lassen. Im Zuge der globalen Corona-  Umdeutung des Büros vom rein sachbezogenen Arbeitsort hin zu einem Ort der sozialen
             Pandemie standen diese Bestrebungen im Gegensatz zum Trend, dass Mitarbeitern im  Interaktion. In Zukunft werden Mitarbeiter genauer entscheiden, warum sie ein Büro auf-
             Homeoffice („erster Ort“) mittels Groupware arbeiten. Manche Tätigkeiten lassen sich  suchen und zu welchem Zweck. Im digitalen Zeitalter mit den Erfahrungen der letzten
             konzentriert und ohne Kollegen am Laptop besser erledigen. Manchmal bedeutet es  Monate kann dieser Zweck nur die Kommunikation und interaktive Zusammenarbeit
             wiederum Ablenkung durch die anwesende Familie. Aktuelle Diskurse betrachten  sein. Das Büro verliert damit seine Bedeutungshoheit als alleinige Arbeitsstätte und ver-
             daher sowohl Vorteile als auch Nachteile der Möglichkeiten von Heimarbeit auch unter  ändert sich auch in der Planung. Büros müssen zukünftig in erster Linie soziale Begeg-
             dem Gesichtspunkt der Arbeitszeitflexibilisierung. Gerade jetzt wird sowohl das Arbei-  nungsstätten sein und Kommunikation und Kollaboration fördern. Denn physische Be-
             ten im Büro als auch im Homeoffice zum ersten Mal wirklich hinterfragt.  gegnung sind die Treiber für Innovation und Kreativität, und die für entsprechende Ar-
                                                                           beitsmethoden gestalteten Räumlichkeiten werden an Bedeutung gewinnen. Es gibt
             Orte für informelle Begegnungen und ungeplante Treffen        somit Orte im Büro, an denen das kreative Arbeiten stattfindet. Diese Orte sind nicht die
                                                                           Schreibtische und Besprechungsräume, wo auch immer sie stehen. Es sind auch nicht
             Doch es liegen noch wenig neue Konzepte vor. Dabei interessieren sich Wissenschaft und  allein die Kaffeemaschinen und Tischtennisplatten der Büros. Die kreativen Orte sind vor
             Praxis schon seit Jahren dafür, welche Räume das kreative Arbeiten befördern, was Kom-  allem die Flure, die Aufzugsvorräume, die Treppenhäuser, die Vorbereiche. Es sind die
             munikation und informeller Austausch in Büroumgebungen mit Innovation zu tun hat,  Zwischenräume in den geplanten Büros, in denen zufällige Begegnungen möglich sind,
             wann eine Tätigkeit sinnvoller zu Hause in Ruhe oder wann im Unternehmen durchzu-  die unser intuitives System anregen und damit das Neue ermöglichen. Denn das intuitive
             führen wäre und wie wir dafür optimale räumliche Bedingungen gestalten müssten. So-  menschliche System ist ein Entscheidungssystem, das schnelle Entscheidungen möglich
             wohl durch eigene praktische Erfahrungen als auch durch eigene Forschungsergebnisse  macht und mit den risikoreichen, ungeplanten Begegnungen umzugehen vermag. Es
             kann angenommen werden, dass Kreativität durch informelle Begegnungen gefördert  braucht die Zufälle als kreativen Impuls von außen für etwas Neues. Für eine Idee, einen
             wird. In gut gestalteten Büroprojekten wurden Orte für ungeplante Treffen bereits in den  Schritt weiter im Denken, eine Innovation. Die Orte dafür müssen aber so gestaltet wer-
             letzten Jahren im Raumprogramm verankert beziehungsweise in Form von weiten Trep-  den, dass sie diese Begegnungen unterstützen. Dann erst ist ein Büro kreativ. Und erst
             penhäusern für Aufenthalt, Erweiterungen von Flurzonen, flexibler und wohnlicher Mö-  dann hat eine zufällige Begegnung einen Effekt. Während im traditionellen Bürokonzept
             blierung in Lobbys und Lounges usw. umgesetzt. Tatsächlich gibt es bereits gute Beispiele  vor Corona Basisarbeitsplätze und Besprechungsräume dominierten – inklusive wenig
             und Produkte für alle drei Orte der Wissensarbeit: das Homeoffice, die Unternehmens-  Raum für Rückzugsmöglichkeiten, Co-Kreation und Gemeinschaft –, hat bereits das ak-
             zentrale und Co-Working-Spaces als „dritten Ort". Geplante Arbeitsorte, die Kreativität  tuelle sogenannte moderne Multispace-Büro eine ausgewogene Verteilung aller Bereiche.
             durch ungeplanten Austausch fördern, finden sich jedoch meist am zweiten und dritten  Im „Post-Corona-Office" werden Basisarbeitsplätze und die üblichen Besprechungsräume

                                                                                                                           AIT 10.2021  •  129
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