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REDINGS ESSAY
Q-SHE ÜBT
Ein Essay von Dominik Reding
E s begann mit einem Flug nach San Francisco, oder nein, eigentlich noch davor, mit Krimskrams aller Art. Weniger „stylish“ als die Läden links und rechts, die Sonnenbrillen
einer Architekturvorlesung: „Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, seine Ruder,
und Handtaschen wie Ikonen zelebrierten. Bewusstes „No-Shop-Design“, vielleicht ein
kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne Mensch, der sich Rest der archaischen HandwerkerInnen-Ehre, dass bei Dienstleistungen die tätige Person
tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es gibt Gefängnisse, in denen 80 und ihr Werk im Mittelpunkt stehen und nicht das Geglitzer des Raumes drumherum.
Prozent der Häftlinge Tätowierungen aufweisen. Die Tätowierten, die nicht in Haft sind, Q-She schien alle hier zu kennen, grüßte, hielt Schwätzchen, traf schließlich im Golden
sind latente Verbrecher oder degenerierte Aristokraten. Wenn ein Tätowierter in Freiheit Gate Park Freundinnen, auch sie tätowiert und gepierct, jung, sportiv und selbstbewusst,
stirbt, so ist er eben einige Jahre, bevor er einen Mord verübt hat, gestorben.“ Er klang wie sie. Trotz oder gerade wegen der sehr sparsamen Menge an Kleidung, die sie trugen,
wie eine Sonntagspredigt, der Text „Ornament und Verbrechen“, verfasst 1908 vom Wie- wirkten sie, mit ihren dichten Linien-Geflechten auf der Haut, stilsicher angezogen und
ner Architektur-Avantgardisten Adolf Loos. Der Hörsaal wieherte vor Lachen. Für mich ich, in meinem Flugzeug-zerknitterten T-Shirt aus den noch die ungebräunten, deutschen
war die Sache nicht so klar, obwohl ich weder Papua (leider) noch Verbrecher (gottlob) Arme ragten, seltsam nackt. Vielleicht ist es schön, ein Papua zu sein? Bewusste, lust-
noch ein Degenerierter bin (hoffentlich). Mein Flug nach San Francisco lief schief. Ein volle „Primitivität“ zu spüren? Zurück zur Natur zu finden! Mutig und frei! Aber... was
Knall, eine Explosion, ein Treibwerk fing Feuer, für einen kurzen Moment. Aus dem Oval hätte Adolf Loos dazu gesagt? Ich grübelte. Sechs Tage dauerte das Festival, ich sah die
des Kabinenfensters konnte man es sehen. Still wurde es danach in der Kabine. Aber die neuesten Werke von Pedro Almodóvar, Kimberly Peirce, Tom Ford und die große Derek
Boeing stürzte nicht in die Wellen des Atlantiks, sie flog mit einem Triebwerk weniger Jarman-Retrospektive, es gab Pressekonferenzen und Premieren, prächtige Premieren-
weiter. Dann, kurz hinter Irland: Flugabbruch: „Our headquarter in Atlanta has decided feiern und einen Gala-Empfang im Rathaus beim Bürgermeister. Am kommenden Tag,
it“, hörten wir die Stimme des Piloten über den Bordlautsprecher. Also Rückkehr nach dem letzten des Festivals, sollte mein kleiner Film laufen, in einem Off-Off-Kino namens
Frankfurt. Zehn Stunden Aufenthalt, dann doch Weiterflug nach New York, dann Nacht- „Wrong!“, und ich meine Rede halten. Am Abend davor, ich betrachtete, zugegeben
flug nach San Francisco. Morgens um fünf kam ich an. erschöpft, zugegeben etwas schwermütig, aus dem vikto-
„Q-She“ winkte aufgeregt am Gate. Q-She holte mich ab. rianischen WG-Erkerfenster die Lichter der Lower Haight,
„Q“ stand für „Queen“, „She“ für „Sheba“. Ursprünglich hörte ich eine Stimme. „Kann ich mal üben?“ Q-She! Ich
hieß sie Evelyn Stuckenbrock, gebürtig aus Detmold, aber drehte mich um: „Was üben?“ „Tätowieren.“ „Wen?“ „Na,
in „EssEff“ (sie sagte immer „EssEff“, nie „San Francis- dich!“ Am nächsten Morgen wurde ich ohnmächtig, gleich
co“) nannte sie sich Q-She und „Tattoo Artist“, obwohl beim ersten Versuch, aufzustehen. Fünf Stunden hatte sie
sie, dies hatte ich gerüchteweise vernommen, bis dato geübt. Wenig schmerzlos. Dabei war das Tattoo zierlich
noch nie irgendjemandem irgendetwas tätowiert hatte. geraten, ein Drache, direkt über dem Bauchnabel. Q-She
Sie vermietete aber ein Zimmer, das Wohnzimmer ihrer hütete ein Buch über chinesisches Porzellan, vom Vormie-
WG an Gäste des International LGBTI*Q-Filmfestivals San ter zurückgelassen. Eilig hatte ich das Motiv ausgesucht
Francisco. Gäste wie mich. Einer meiner Kurzfilme hatte und abgezeichnet. „Hey, alles okay?“ Q-She stand jetzt vor
es ins Programm des renommierten Festivals geschafft , der Couch, aber ich hörte nur ihre Stimme, sie klang ner-
und eine kleine Ansprache sollte ich vor der Vorführung vös: „Brauchst du Hilfe?“ Sehen konnte ich sie nicht, über-
auch noch halten. Es würde eine Ehre. Q-She schimmerte, haupt nichts mehr konnte ich sehen, nur noch hören, und
glitzerte, alles an ihr war ein „Hingucker“, sie selbst wirkte Grafik: Dominik Reding dabei sollte es, dank meines Kreislaufs, die nächste Zeit
wie eine Filmfigur, wie ein noch unentdeckter Star, kurz bleiben. Sie nahm mich vorsichtig bei der Hand, fragte:
vor dem unvermeidlichen Durchbruch: braungebrannt, „Wann fängt dein Film an?“ „Um 12 Uhr.“ „Oh, das ist in
sportiv, schlank, androgyn, ihre Kleidung gewollt shabby und betont chic zugleich. Alles 40 Minuten!“ Sie packte mich und schob mich raus. Sicher kannte der Busfahrer solche
zwang zur Beachtung, zum Wundern und Bewundern: von ihren Piercings bis zu den entgleisten Touristen, die in „EssEff“ Hippie-Gewohnheiten kopierten, illegale Substanzen
Cowboyboots, von der zerschlissenen 1970er-Jahre-Jeans, bis zum kunstvoll gestochenen konsumierten und – natürlich – kläglich dabei versagten. Kommentarlos ließ er uns hin-
Spinnen-Tattoo auf ihrem kahl geschorenen Kopf. Nach einer unruhigen Nacht auf der ein und kommentarlos vor dem Kino wieder hinaus. Und ich konnte nichts sehen. Wei-
WG-Couch, draußen wurde geschossen („das ist hier immer so“, hatte sie mich vor dem terhin. Im Vorraum des „Wrong!“ roch es nach Popcorn und Cola. Cola! Reiner Zucker! Ich
Einschlafen informiert), weckte sie mich mit amerikanischem Kaffee („cinnamon taste“) trank gierig die erste, die zweite, die dritte Flasche. BAMM! Ein Wunder biblischer Dimen-
und sagte: „Komm, ich zeig dir die Haight“. Sie sagte es wenig begeistert, sicher eine sion: Ich konnte wieder sehen! Und meine Rede halten. Und bekam Applaus. Sogar von
Routinesache für alle ihre Festivalbesucher. Die „Haight“, also die Haight Ashbury Street. Q-She. Im Flugzeug am Tag danach, auf dem Rückweg nach New York krümmte ich mich
Erst runtergekommener Beatnik Hang-out, dann Hippie-Hochburg, jetzt Touristenattrak- im Economy-Class-Sitz. Der Sicherheitsgurt drückte hart gegen die frische Tätowierung.
tion. Und tatsächlich, am unteren – weniger hippen – Ende der „Lower Haight“ wohnte „Something to declare?!“ Vielleicht lag es an meinem schmerzzerfurchten Gesicht. Am
Q-She. „Wir gehen die Haight runter, bis zum Golden Gate Park“. Sie nahm ihr „Pet“ JFK-Airport wurde ich vom Zoll gefilzt. Erst der Rollkoffer, dann die Umhängetasche, dann
mit, eine afghanische Windhündin namens „Anastacia“. „Du darfst sie auch mal an der ich. „Strip!“, befahl der Beamte. Ich gehorchte. Der Beamte, er sah Tupac Shakur verblüf-
Leine halten“, Q-She lächelte, „wenn sie es dir erlaubt“. Wir zogen die Haight entlang, fend ähnlich, musterte mich streng, wie es so der Zollbeamten Art ist. Dann entdeckte er
vorbei an endlosen Reihen dieser viktorianischen Holzhäuser, die – geschnitzt und ver- das Tattoo. Er betrachte es ausgiebig. „Is it fresh?“ Ich nickte. „Took it long?“ Ich nickte.
ziert – weiß getünchten Schweizer Kuckucksuhren glichen. Im Erdgeschoss kleine Läden: „Did it hurt?“ Ich nickte erneut. „Looks cool bro!“ Er grinste, seine weißen Zähne blitzten.
Brillen, Schmuck, Kleidung, ab und an ein Pub, ab und an auch ein „Tattoo-Parlor“, Und dann: „You can go!“ Er grinste weiter, rollte die Ärmel seiner Uniform hoch: tätowiert,
ein Tätowierladen: kleine, bunte Sammelsurien, vollgestopft mit Tattoo-Entwürfen und beide Arme. „Go!“ Ich ging. Der Rückflug war, was soll ich sagen, großartig!
050 • AIT 9.2023