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SERIEN  PERSPEKTIVWECHSEL  •  CHANGE OF PERSPECTIVE


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                                                                         ansprechen, zeigen, dass viele Katastrophen dieser Welt oft menschengemacht sind. Das ist
                                                                         ein absolutes Phänomen und eine Erzählung, die in vielen meiner Arbeiten auftaucht, aber
                                                                         nicht unbedingt offensichtlich ist. In meinem Titanic-Panorama erzähle ich beispielsweise
                                                                         nicht den offensichtlichen Ablauf der Katastrophe. Bei New York 9/11 zeige ich auch nicht
                                                                         die Flugzeuge, sondern baue eher auf die Suggestionskraft der BesucherInnen. Wenn ich
                                                                         Natur abbilde, versuche ich, ihre unfassbare Schönheit darzustellen, soweit das überhaupt
                                                                         möglich ist. Ein weiterer Themenstrang beschäftigt sich mit unserer Wahrnehmung und
                                                                         der Kunst an sich. Im Panometer Leipzig wird es ab Frühjahr 2024 ein Panorama zum
                                                                         Impressionismus geben. Darin werde ich über das Malen an sich sprechen, über Sinn und
                                                                         Zweck und meinen subjektiven Blick auf die Malerei. Außerdem arbeite ich an einem Bild
                                                                         über die Romantik. Diese längst vergangene Epoche passt meiner Meinung nach sehr gut in
                                                                         unsere Zeit, in der technische Neuerungen wie Künstliche Intelligenz das Selbstverständnis
                                                                         vieler Kunstschaffenden auf die Probe stellen.

                                                                         r  In einer immer digitaleren, aber letztlich zweidimensional bleibenden Welt der
                                                                         Illusionen an Laptop, PC und Handy sind Ihre 360°-Panoramen Ganzkörper- und
                                                                         Sinneserfahrungen. Welche Sehnsüchte werden dabei – gerade heute – gestillt?
                                                                         Das ist eine spannende Frage. Ich sehe das ein bisschen als Gegenentwurf zum heutigen
                                                                         Trend der Beschleunigung und der immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen.
                                                                         Im Panorama arbeiten wir mit Stillstand und Verlangsamung. Die BetrachterInnen können
                                                                         sich zwar völlig frei bewegen, stehen aber still, um das Bild zu betrachten. Diese Ruhe
           Foto: Copyright Asisi                                         und die Tatsache, von einem riesigen Bild umgeben zu sein, ermöglichen es, sich auf
                                                                         sehr komplexe Dinge einzulassen und stundenlang in diesem Kunstraum zu verweilen.

                                                                         gibt aber auch Menschen, die zwei, drei oder sogar vier Stunden im Panorama verbringen.
           Anamorphose des Pergamon-Tempels in der Ausstellung: nur aus einem bestimmten Blickwinkel korrekt zu sehen  Durchschnittlich bleiben die Besucher und Besucherinnen etwas mehr als eine Stunde. Es
                                                                         Es ist ein emotional aktivierendes, ein körperliches Gefühl. Ein Gefühl, das dafür sorgt,
            Vorarbeiten für „Pergamon“ in Bergama – dem früheren Pergamon – in der Provinz Izmir in der Türkei  dass sich viele noch Jahre später an Details und das Erlebte erinnern. Im Panorama ist
                                                                         man im Gegensatz zu vielen anderen Medien der Regisseur seines eigenen Sehens.

                                                                         r  Ihre Panoramen mit über 30 Metern Höhe und 100 Metern Umfang sind keine
                                                                         Projektionen. Wie werden diese gewaltigen Bildwände denn technisch realisiert?
                                                                         Das ist ein sehr komplexer Vorgang, und ich kann hier bei Weitem nicht auf alle Aspekte
                                                                         eingehen. Es ist ein Zusammenspiel unzähliger Komponenten. Am Ende sind die Bilder,
                                                                         die entstehen, fast immer realistisch, aber doch sehr inszeniert und komponiert. Am
                                                                         Anfang steht eine Skizze von mir, die den gesamten Raum und die groben Strukturen
                                                                         darstellt. Auf dieser Basis entstehen viele weitere zeichnerische Studien und aufwendige
                                                                         digitale  3D-Modelle,  die  in  jahrelanger  Arbeit  mit  Fotografien,  Texturen  und  vielen
                                                                         anderen Bildinhalten komponiert werden. Sind viele Personen im Bild, werden diese
                                                                         in  aufwendigen  Fotoshootings  choreografiert,  kostümiert  und  fotografiert.  Ähnlich
                                                                         wie bei einer Filmproduktion. Das Bild wird schließlich in einem jahrelang erprobten
                                                                         Verfahren auf Stoffbahnen gedruckt, genäht und  zusammen mit einer speziellen
           Foto: Copyright Asisi                                         Licht- und  Toninszenierung unter meiner Regie im Ausstellungsraum installiert. Das
                                                                         ist sowohl technisch als auch künstlerisch ein sehr anspruchsvoller Prozess. Allein die
                                                                         Herausforderung, eine zylindrische Leinwand von über 30 Metern Höhe und 100 Metern
                                                                         Umfang zu spannen und die Statik für den jeweiligen Ausstellungsort richtig zu berechnen,
           Fotoshooting für „Pergamon“ mit Komparsen: So erhält das Panorama seine realistische Wirkung.  ist immens. Ich habe allerdings das Glück, mit einigen der größten Koryphäen ihres Fachs
                                                                         zusammenarbeiten zu dürfen. Wir sind ein eingespieltes Team.

                                                                         r Und wie aufwendig sind denn Vor- und Recherchearbeiten zu einem Projekt – vor
                                                                         Ort, in Kooperation mit Projektpartnern, Wissenschaftlern und Ihrem Team?
                                                                         Der Prozess dauert immer einige Jahre. Mein Team besteht aus einem Kernteam von
                                                                         ungefähr 15 MitarbeiterInnen und  weiteren ProjektpartnerInnen, SpezialistInnen und
                                                                         KünstlerInnen. Dazu gehören Eric Babak, ein befreundeter Komponist, der seit vielen
                                                                         Jahren den Soundtrack zu meinen Panoramen beisteuert, dann Jörg Tritthardt, Statiker
                                                                         für textile Konstruktionen, und einige andere. Für viele Besucher und Besucherinnen ist
                                                                         der Aufwand, der dahintersteckt, gar nicht erkennbar, einfach weil das fertige Bild in sich
                                                                         meist sehr geschlossen realistisch wirkt – das ist aber auch gut so.
           Foto: Tom Schulze; Copyright Asisi                            r Das Panometer Leipzig – eine Wortschöpfung aus Panorama und Gasometer – feiert


                                                                         in diesem Jahr seinen 20. Geburtstag. Was bedeutet dieses Jubiläum für Sie?
                                                                         Ohne das Panometer Leipzig  wäre die  Wiederbelebung der Kunstform Panorama



           036  •  AIT 9.2023                                            nicht möglich gewesen, und es nimmt heute eine Sonderstellung ein, sozusagen als
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