Page 78 - AIT0921_E-Paper
P. 78
VERKAUF UND PRÄSENTATION • RETAIL AND PRESENTATION
BUCHHANDLUNG
IN HANGZHOU
Entwurf • Design Atelier Tao+C, CN-Shanghai
Man kann die „Stille“ regelrecht hören – das Flüstern, das Umblättern,
gemächliche Schritte. Bezeichnend für eine Bücherei, unüblich für eine
Buchhandlung … und doch so kundennah! Tao Lius und Chunyan Cais
Ladenentwurf im Erdgeschoss eines Einkaufszentrums grenzt sich
nicht nur optisch von den umliegenden Geschäften ab. Unabhängiger
Einzelhandel mit reiner Absicht: Bibliophilie dominiert Kommerz.
von • by Stephan Faulhaber
K onzept? Lektüre! Denn das Wort meint nicht nur Bücher, sondern auch den Vorgang
des Lesens. Die Inspiration hierzu lieferte die Auftraggeberin selbst bereits beim er-
sten Telefonat mit Atelier Tao+C.: „Common Reader“ – benannt nach Virginia Woolfs
gleichnamigem Buch – solle das über 300 Quadratmeter große Geschäft heißen. Hier darf,
vielmehr soll, man schmökern. Regale, Tische, Bänke, Stühle und Parkett aus einheitlich
dunklem Kirschholz; Stützen, Samtvorhänge, Leselampen in mannigfaltigen Grüntönen;
eine nuancenreiche Steinbodenvariation. Besonders in seiner Farb- und Materialgebung
erinnert das nostalgische Ambiente an die alten Bibliotheken des Okzidents. Jedoch han-
delt es sich nicht um eine Blaupause, wie beim unweit entfernten Eiffelturm-Double –
dessen vom Kontext losgelöste Errichtung keinesfalls Architektur-, sondern allenfalls Bau-
verständnis ausdrückt –, denn das junge Planerteam versteht es zu zitieren und neu zu
interpretieren. Der Entwurf samt Mobiliar stammt aus der Feder von Atelier Tao+C.
L-förmig, beidseitig erschlossen, befindet sich an jedem Ende der Buchhandlung ein Ein-
beziehungsweise Ausgang. Und doch ist man zum Kreisen geneigt. Mittig im Raum plat-
zierte Präsentationstische stellen die Neuerscheinungen bereit – das hüfthohe Mobiliar ge-
währt dabei eine gute (Über-)Sicht und definiert mit seinen raumhohen Metallstützen ein
stringentes Leitsystem innerhalb des offenen Grundrisses. Im Wandbereich betonen Re-
galgruppen sowie Vorhänge und Buchrücken mit ihrer „Kannelierung“ die Senkrechte und
reduzieren die Tiefenwirkung der doch sehr korridorhaften Raumfolge. In Reihe geschal-
tete Lese- und Lernecken, die in die Bücherregale integriert wurden, schaffen durch ihre
Abfolge gerahmter Öffnungen interessante Blickbeziehungen. Die zugezogenen Vorhänge,
als weiche Raumgrenze, konkretisieren – intensiver noch als die geschlossenen Wände –
die vorherrschende Introversion. Erstaunlich, wie ungehindert hier Lesen und Verkauf par-
allel verlaufen und wie selbstverständlich Kunden zu Besuchern werden. Um mit den
Worten der englischen Schriftstellerin Mary Ann Evans (1819-1880) – besser bekannt unter
ihrem Pseudonym George Eliot – abzuschließen: Don’t judge a book by its cover.
078 • AIT 9.2021