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VERKAUF UND PRÄSENTATION  •  RETAIL AND PRESENTATION

































            BUCHHANDLUNG

            IN HANGZHOU



            Entwurf • Design Atelier Tao+C, CN-Shanghai


            Man kann die „Stille“ regelrecht hören – das Flüstern, das Umblättern,
            gemächliche Schritte. Bezeichnend für eine Bücherei, unüblich für eine
            Buchhandlung … und doch so kundennah! Tao Lius und Chunyan Cais
            Ladenentwurf im Erdgeschoss eines Einkaufszentrums grenzt sich
            nicht nur optisch von den umliegenden Geschäften ab. Unabhängiger
            Einzelhandel mit reiner Absicht: Bibliophilie dominiert Kommerz.



            von • by Stephan Faulhaber
            K   onzept? Lektüre! Denn das Wort meint nicht nur Bücher, sondern auch den Vorgang
                des Lesens. Die Inspiration hierzu lieferte die Auftraggeberin selbst bereits beim er-
            sten Telefonat mit Atelier Tao+C.: „Common Reader“ – benannt nach Virginia Woolfs
            gleichnamigem Buch – solle das über 300 Quadratmeter große Geschäft heißen. Hier darf,
            vielmehr soll, man schmökern. Regale, Tische, Bänke, Stühle und Parkett aus einheitlich
            dunklem Kirschholz; Stützen, Samtvorhänge, Leselampen in mannigfaltigen Grüntönen;
            eine nuancenreiche Steinbodenvariation. Besonders in seiner Farb- und Materialgebung
            erinnert das nostalgische Ambiente an die alten Bibliotheken des Okzidents. Jedoch han-
            delt es sich nicht um eine Blaupause, wie beim unweit entfernten Eiffelturm-Double –
            dessen vom Kontext losgelöste Errichtung keinesfalls Architektur-, sondern allenfalls Bau-
            verständnis ausdrückt –, denn das junge Planerteam versteht es zu zitieren und neu zu
            interpretieren. Der Entwurf samt Mobiliar stammt aus der Feder von Atelier Tao+C.
            L-förmig, beidseitig erschlossen, befindet sich an jedem Ende der Buchhandlung ein Ein-
            beziehungsweise Ausgang. Und doch ist man zum Kreisen geneigt. Mittig im Raum plat-
            zierte Präsentationstische stellen die Neuerscheinungen bereit – das hüfthohe Mobiliar ge-
            währt dabei eine gute (Über-)Sicht und definiert mit seinen raumhohen Metallstützen ein
            stringentes Leitsystem innerhalb des offenen Grundrisses. Im Wandbereich betonen Re-
            galgruppen sowie Vorhänge und Buchrücken mit ihrer „Kannelierung“ die Senkrechte und
            reduzieren die Tiefenwirkung der doch sehr korridorhaften Raumfolge. In Reihe geschal-
            tete Lese- und Lernecken, die in die Bücherregale integriert wurden, schaffen durch ihre
            Abfolge gerahmter Öffnungen interessante Blickbeziehungen. Die zugezogenen Vorhänge,
            als weiche Raumgrenze, konkretisieren – intensiver noch als die geschlossenen Wände –
            die vorherrschende Introversion. Erstaunlich, wie ungehindert hier Lesen und Verkauf par-
            allel verlaufen und wie selbstverständlich Kunden zu Besuchern werden. Um mit den
            Worten der englischen Schriftstellerin Mary Ann Evans (1819-1880) – besser bekannt unter
            ihrem Pseudonym George Eliot – abzuschließen: Don’t judge a book by its cover.

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