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Valentina Kinzel


                1966 in Kasachstan geboren 1983–1988 Studium der Architektur an der Universität Krasnojarsk, Russland  1988–2011 23 Jahre Berufserfahrung als Architektin in
                namhaften Büros für Hochbau- und Innenarchitektur sowie Retaildesign, u. a. Maßwerk GmbH in Duisburg und Schwitzke & Partner GmbH in Düsseldorf  2011
                Bürogründung Kinzel Architecture in Schermbeck





































                Überall kann der Kunde den Produzenten über die Schulter schauen und mit ihnen ins Gespräch kommen. • The customer is everywhere able to look over the producers’ shoulders and talk to them.



                schlechthin sind, steigt auch bei uns der Bedarf an Con ve nien ce-Produkten. Außerdem  worfen habe. Vor fünf Jahren machte ich mich dann selbstständig. Seither gehört
                lockt auch noch der Online-Markt mit dem Verkauf der Lebens mittel von morgen. Die  Dominic Brandfass zu meinem Team. Er war vorher viele Jahre beim Fern sehen – er
                großen Lebensmittelketten tun also gut daran, in  Zukunft nicht nur ihre Hüllen  zu  ist ein Mann fürs Bild. Dann konzentrierte er sich auf 3-D-Animationen und auf virtu-
                modernisieren, sondern das Einkaufen von Lebensmitteln wieder ein Stück chen mehr  elle Realitäten. Gemeinsam produzieren  wir heute fotorealistische Dar stellun gen
                in eine Erlebniswelt zu transferieren. Eine Welt, wie sie vielleicht eine Tante Namens  unserer Laden-Konzeptionen.  Zunehmend mit 3-D-Brille! Der  Weg  zur Aug mented
                Emma vor vielen Jahrzehnten schon einmal erfand. Zumindest ein Stückchen davon  Reality ist nicht weit. Auch das ist ein Grund, warum Auftraggeber wie Edeka und
                kann das Erlebnis „Einkaufen“ mit einer modernen Retro-Charme-Offensive aufladen,  Rewe uns heute immer mehr vertrauen. Wir legen Konzeptionen vor, die später, in der
                die letztlich allen guttut: Käufern und Verkäufern.           Realisierung, genau so aussehen. Fotos vom identischen Standort, wie ihn die digitale
                                                                              Animation  zeigt, lassen einen staunen: Die Unterschiede  zwischen  Vorher und
                Von Tante Emma lernen: Emotionen wecken                       Nachher sind nicht mehr zu erkennen.

                Wie so etwas aussehen kann, haben wir mit einem 2016 in Luxemburg eröffneten, 5.000  Individualität ist Trumpf: mit spannenden Details überraschen
                Quadratmeter großen Lebensmittelmarkt der Extraklasse versucht zu zeigen. Vielleicht
                war es der Blick aus dem Fenster unseres Büros im niederrheinischen Schermbeck auf  Genau so gingen mein  Team und ich auch an das Refurbishment der ehemaligen
                saftige, grüne Wiesen – Großstadtflair holen ich und meine Mitarbeiter uns auf Reisen! –,  Kaisers-Märkte. Hier soll zukünftig alles frisch, regional, bio und hochwertig sein. Natür -
                der die Luxemburger Konzeption inspirierte: Denn dort wird heute selbst produziert.  lich! Also erschufen wir eine loftartige Atmosphäre. Ein Materialmix aus Beton, schwar-
                Hinter dem Markt steht auf der Luxemburger Wiese das Biorind, das – so will es der  zen Metallprofilen, Holz und Glas, aber auch aus Kreidetafeln und handgezeichnete
                Kreislauf des Lebens – irgendwann geschlachtet, dann aber denkbar frisch verarbeitet  Grafiken schafft eine Mischung aus Handwerkskunst und Industrie. Es sind auch diese
                und verkauft wird. Nudeln werden im Markt zubereitet. Und die Patisseure lassen sich  kreativ-handwerklichen Details, die vor allem mein Sohn Alexej realisiert. Noch parallel
                bei der Arbeit gern über die Schultern schauen. Es ist ein besonderes Konzept, das die  zu seinem Architekturstudium  war er als Graffitikünstler unterwegs. Seit seinem
                Grenze  zwischen Manufaktur,  Wochenmarkt und Lebensmittelhändler auflöst.  Zwar  Abschluss unterstützt er das Team vor allem in den Entwurfsphasen. Und so reihen sich
                mussten auch wir uns an ein vorgegebenes CI halten, doch in dessen Rahmen durften  Märkte wie Luxemburg und Kaisers im Architekturbüro wie an einer Perlenkette anei-
                wir frei interpretieren. Tatsächlich sind wir bei der Gestaltung unserer Projekte denkbar  nander: Berlin, Hannover, Bielefeld, Bonn, Düsseldorf, Hamburg ... Die Liste ist lang, die
                frei – egal ob wir Ladenkonzepte für Deutschland oder das Ausland produzieren. Und  Märkte mitunter bis zu 10.000 Quadratmeter groß. Und für jeden Markt treibt uns der
                doch stellen wir im mer wieder fest, dass Experimente jenseits der deutschen Grenzen  unbedingte Wille zur Individualisierung an. Kein Markt soll aussehen wie der andere.
                leichter umzusetzen sind. Noch! Nach offiziellen Angaben hat der Ausbau eines 1.700  Dazu reisen wir mehrmals im Jahr durch die ganze Welt – immer auf der Suche nach
                Quadratmeter großen Globus-Marktes in der Schweiz zuletzt 13 Millionen Franken gekos-  dem neuesten  Trend. Regelmäßig  verbergen sich die  wirklich neuen Inspirationen
                tet, eine Größen ord nung, die in Deutschland utopisch ist – Die Deutschen wollen nicht in  abseits der eigentlichen Ziele, in den Nebenstraßen, in den „handgemachten“ Alterna -
                Schönheit sterben! –, aber wir bewegen uns durchaus in kleinen Schritten darauf zu.  tiven zu den Top-Adressen der Stadt. Dort bekommen wir zumeist die wirklichen Ideen
                Als ich in den 1990er-Jahren aus Russland nach Deutschland kam, arbeitete ich zu -  für unsere Konzepte – nämlich immer dann, wenn Cafés, Restaurants, Bou tiquen oder
                nächst in großen Architekturbüros, wo ich Konzepte für die Läden von morgen ent-  Marktstände mit spannenden Details überraschen.



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