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REDINGS ESSAY

                                               WILLST DU




                                    MIT MIR GEH’N?





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





           W     illst Du mit mir geh’n, Licht und Schatten versteh’n? Willst Du mit mir geh’n, Dich  in  der  nachbarschaftlichen  Arztvilla)  und  einem  ebenso  prachtvollen  wie  heimtü-
                 mit Windrosen dreh’n? Willst Du mit mir geh’n?“ Unverändert geblieben war der  ckisch-launischen Golden Retriever namens „Marilyn“. In diesem Haus fanden sich alle
           Farn. Urwaldgroß, von intensivem, fast schrillem Grün. Dicht und schützend. Ungestört  Ingredienzen des „Davos-Stils“ in Vollendung: Modernität, Internationalität und Genussar-
           unter den Buchen des kleinen Wäldchens wuchernd. Ein Anblick wie aus vergangenen  chitektur. Die Modernität: Hinter dem Dienstboteneingang lag eine Ess- und Kochwelt, die
           Erdzeitaltern. Jurassic Park in einer braven, mitteldeutschen Vorstadt. Vor 22 Jahren war  eine gestalterische Verwandtschaft mit den Mondfähren der NASA wie mit zeitgenössi-
           ich zuletzt hindurch gelaufen, durch diese geheime Abkürzung, die Farnbüschel respekt-  schen, skandinavischen Design-Offenbarungen lustvoll zelebrierte. Die 40 Quadratmeter
           voll umkurvend. Jetzt ging ich sie wieder, denn dort hinter dem Schattenwald lag eine  große, quadratische, speziell für den Raum entworfene Einbauküche war rundherum mit
           Sensation. Die einzige des Vororts. Und nur mir und nur sehr wenigen „Eingeweihten“  gebürstetem Edelstahl verkleidet, in ihrer Raummitte konkurrierten ein weißer Kunst-
           bekannt:  Das  Wohnhaus  Dr. Schütze,  Baujahr  1974:  Wände  weißer  Klinker,  Dach  stoff-Esstisch mit runder Marmorplatte und fünf Plastikstühle aus der Tulip-Serie von Eero
           blau-schwarzer Schiefer, Fenster dunkelbraun eloxiertes Aluminium. Hier und da ein  Saarinen unter einer voluminösen Hängelampe aus matt-geätzten Glaskugeln von Verner
           schmiedeeisernes Rautengitter, eine „historisch“ anmutende Gartenlampe, eine Teakholz-  Panton mit einer raumgreifenden Wendeltreppe aus Stahl und Plexiglas, die zum Wohn-
           tür mit Kassettenmuster. Bürgerlich-protzig, bürgerlich-behäbig. Nichts daran war für ein  geschoss führte. Die Internationalität: Lagen bei uns als Beweis der Ferne und des Dortge-
           gut situiertes Wohnhaus jener Jahre ungewöhnlich, nichts daran hätte die Anstrengung  wesenseins Muscheln vom Strand der Ostsee und Seesterne vom Mittelmeer auf der
           einer Expedition durch den Farn-Urwald gerechtfertigt. Es war das Innere des Hauses.  Wohnzimmerfensterbank, waren es bei Dr. Schütze signierte Radierungen von Joan Miró
           Überwältigend modern, absolut up to date. Die Schizophrenie der Gestaltung war nicht  und Pablo Picasso im Arbeitszimmer und antike Amphoren im Hausflur, die dezent auf
           allein der geschmacklichen Unentschlossenheit jener Baujahre, sondern auch der privaten  seine Finca bei Sitges hinwiesen, außerdem ein Steinway-Flügel und eine großformatige
           Baugeschichte geschuldet: Das Haus (korrekter: die Villa) wurde für einen alleinstehenden,  Zeichnung von David Hockney, die an seine Studienzeit an der Stanfort University erinnert.
           älteren Herrn errichtet, der jedoch noch vor dem Innenausbau verstarb. Ein junges Arzt-  Die Genussarchitektur: Von der silbrig-futuristisch, aber beherrscht gestalteten Küche ging
           ehepaar kaufte das Haus nach zwei Jahren Baustillstand. Deren                 es ein paar Stufen hinab, vorbei an einem Saunaraum mit Tauch-
           ganz der Zeit entsprechender Geschmack konnte sich zweifach                   becken, zum Pooltrakt. Der war gigantisch, zum Garten hin mit
           zeigen: Durch einen großzügigen Indoorpool-Anbau und die                      raumhohen Fenstern und Schiebetüren geöffnet. Hier herrschte
           Innenarchitektur. 1974 war kein bedeutendes, schon gar kein                   eine fast sakrale Stille. Die gestalterische Ruhe des Raums und
           bahnbrechendes Jahr für das Design. Im Gegenteil, die 1970er                  das leise Plätschern der Reinigungsanlage ließen mich und jeden
           hielten sich gestalterisch bedeckt. Längst vorbei waren die bunten            Besucher in eine Art Trance verfallen; die indirekte Poolbeleuch-
           Pop-Art-Wohnwelten mit ihren Liegelandschaften und Aufblas-So-                tung, das Vogelgezwitscher vom Farnwäldchen und die konstan-
           fas, und lange noch nicht in Sichtweite war die Postmoderne mit               ten 25 Grad Raumtemperatur trugen das Übrige dazu bei … Ich
           ihrer Lust an Symmetrien, Ironien und bedrucktem Laminat. Aber                war aufgeregt. Jetzt, nach 22 Jahren würde ich wieder an der
           fast unentdeckt von den seriösen Architekturkritikern hatte diese             Mercedes-Doppelgarage vorbeilaufen, von der wir Jugendlichen
           man wollte international sein. Vertraut mit all den Airports, fernen  Foto: Benjamin Reding  kanischen Potentaten, würde flink die breiten Stufen der Sand-
           Zeit doch einen „Stil“, der bis heute keinen Namen trägt, also
                                                                                         behaupteten, sie sei in Wahrheit der Wohnbungalow eines afri-
           noch auf seine Entdeckung wartet. Ich nenne ihn den „Davos-
                                                                                         steintreppe zum Eingang nehmen, die übergroße bronzene Klin-
           Stil“. Man wollte lässig und weltgewandt, sichtbar wohlhabend,
                                                                                         gel drücken, und Frau Dr. Schütze würde mir öffnen, unverän-
           Ferienorten, luxuriösen Feinschmeckerrestaurants und mondänen Night-Clubs dieses Pla-  dert, schlank und blond. Und jetzt endlich würde ich sie fragen, wer das alles so unver-
           neten, ob am Strand von Acapulco oder im Ski-Resort in Davos. Ganz besonders wollten  gesslich perfekt entworfen hat, damals, als Frau Lavi auch aus den Lautsprechern der
           es die Deutschen. Sie hatten so viel nach- und aufzuholen, mussten lernen, dass man die  Schütze-Villa schallte: „Wenn ich nicht mehr Vagabund sein will, baust Du mein Haus?
           Welt auch jenseits kriegerischer Eroberungsfeldzüge kennenlernen kann, zum Beispiel als  Ruhst Du mit mir vom Leben aus? Willst Du mit mir geh’n …?“ Ich laufe die letzte Kurve
           Tourist. Sie hatten die Jahre 1950 bis 1970 durchgearbeitet, wie im Fegefeuer, verbissen,  im Wäldchen, ein Farn noch, zwei Buchen, dann wird der Blick auf die Villa frei. Sie steht
           ohne Genuss. Es galt, etwas nachzuholen. Die deutschen Single-Charts erkletterte plötzlich  leer. Die Fenster schmutzig und stumpf, Bauschuttcontainer im ehemals so penibel
           eine israelische Sängerin namens Daliah Lavi, die mit ihrem Song „Willst Du mit mir  gepflegten Garten und um das Anwesen herum ein Gitterzaun mit Stacheldraht und Bau-
           geh’n?“ zum moderat-hippieskem Lebenswandel aufforderte. Das für die „modernen“  schild: „Hier entstehen sechs Eigentumswohnungen, 80 bis 140 Quadratmeter, in nachhal-
           Menschen der Bundesrepublik bis dato obligatorische, Askese einfordernde Wohnambi-  tiger, ökologischer Bauweise.“ Ich recke mich, sehe im Schutt gesprungene Glaskugeln
           ente des „Bauhaus-Stils” wurde genussorientiert erweitert: mit Hausbar, Pool und Sauna,  und verbeultes Plexiglas. „Das war bestimmt die reinste Drecksschleuder, Umweltgifte en
           mit Antiquitäten und folkloristischer Kunst. Die Mitglieder der Familie Dr. Schütze, stets  masse!“ Ein junger Mann sagt es, mit Frau und Kind steht er am Bauzaun, wie ich. „Wir
           strahlend vor Selbstsicherheit und guter Laune, waren die Protagonisten dieser Um- und  haben eine 80 Quadratmeter Wohnung gekauft, vorweg. Jetzt ist es noch günstig. Im
           Neuorientierung: Herr Schütze, ein distinguierter Herr von Welt mit seinem lockigen  Erdgeschoss. Da kann unser Patrick immer gleich ins Grüne.“ Er lächelt, nimmt seinen
           schwarzen, später silbergrauen Haar, seinem goldmetallic lackierten Mercedes 350-SL,  Sohn auf die Schulter. „Das wird hier ganz modern, mit nachhaltigen, abbaubaren Bau-
           seiner Mitgliedschaft bei den Rotariern, Frau Schütze, ebenfalls Dr. und Ärztin, schlank,  stoffen.“ „Und so richten wir’s auch ein. Alles Hygge und mit viel Holz“, sagt die junge Frau
           blondhaarig, blauäugig, ebenfalls mit eigenem Mercedes (280-SLC in silbermetallic), und  freundlich. „Und im Wohnzimmer Japandi, wie im Urlaub“, ergänzt ihr Mann. „Und Sie?
           gesegnet mit zwei prachtvollen Kindern: einer sportiven, Tennis und Piano spielenden,  Wollen Sie auch eine Wohnung kaufen?“ Im Taxi zurück zum Bahnhof dudelte das Auto-
           ebenso eleganten wie schulisch begabten Tochter und einem freundlichen, aber der Nach-  radio. Der Fahrer kennt den Song nicht, aber ich, ich kenne ihn. „Willst Du mit mir geh’n?
           hilfe in Latein bedürftigen Sohn (mein Mitschüler und Ursache für regelmäßige Besuche  Dich mit Windrosen dreh’n? Willst Du mit mir geh’n?“

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