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WOHNEN  •  LIVING   LITERATUR  •  LITERATURE
           LITERATUR







           NEUE TITEL ZU UNSEREM HEFTTHEMA WOHNEN



































           Neues Leben für alte Häuser              Zimmer für immer                         Der Eingang der Moderne

           Alte Höfe, viel Raum und umgebende „Natur“; Holz, das   Klingt das nicht idyllisch? Ein kleines Häuschen mit Garten   Ein Buch über Eingänge braucht selbst einen schönen
           Behaglichkeit ausstrahlt - eine andere Art von Luxus und   am Münchner Stadtrand. Dort lebt Autor Lars Reichardt   Aufmacher. Mies’ Eingang zum Haus Tugendhat in Brünn
           Ästhetik zeigen vier Beispiele aus der Praxis von Moder-  mit wechselnden nerdigen MitbewohnerInnen zusammen:   ziert daher den Deckel dieser neueren Eingangs-Studie
           nisierungen vom Stadthaus bis zur Landwirtschaft. Der  Birgit ist Insektenforscherin, Li ein modebewusster Yuppie,   mit dem Untertitel „Extravaganz und Understatement im
           Filmemacher Klaus Röder sowie die Herausgeberin des  Rudi ein in Österreich prominenter Rockvideoproduzent.   europäischen Villenbau der 1920er- und 1930er-Jahre“.
           Buches Tatjana Suiter haben solche alten Häuser zunächst   Welche Wohnkonzepte gäbe es noch für jemanden, der   Man hofft, hinter dieser Tür reichlich Bilder und Pläne zu
           im Allgäu, danach in Tirol und Südtirol entdeckt und   nicht in einer Kleinfamilie oder als Single leben will?   entdecken, vielseitige Lösungsansätze selbst studieren zu
           ihnen, mit einem Team von Handwerkern, neues Leben  Angesichts überteuerter Mieten und zunehmender Verein-  können. Doch die zuvor an der Universität Köln einge-
           eingehaucht. Röder begann seine Renovierungen, als res-  zelung stellen sich heute viele Menschen diese Frage. Lars   reichte Dissertation der Kunsthistorikerin Viviane Taubert
           sourcenschonende Architekturpraxis bei Architekturpreis-  Reichardt schaut sich einige Konzepte genauer an: eine   ist eine in sich geschlossene, textbasierte Studie mit eher
           vergaben noch eher nachrangig war. Nach Röder „soll der   in die Jahre gekommene deutsche Kommune in Italien,   magerem Bildteil im Appendix. Für ArchitektInnen, die
           Charme eines Hauses erhalten bleiben“ und zudem durch   ein Mehrgenerationenhaus, ein Selbstversorgerdorf, das   viele der hier untersuchten Hauptwerke der Klassischen
           Modernisierung ein komfortables  Wohnen ermöglicht  ökologisch nachhaltig wirtschaftet, eine Jesuiten-Kommu-  Moderne bereits kennen, fehlt dadurch ein wichtiger Teil.
           werden. Das sieht man vor allem an den nachträglich ein-  nität, eine multikulturelle Wohnungsbaugenossenschaft,  Dennoch ist Tauberts Buch eine beachtenswert selbst-
           gebauten Bädern und den angepassten Küchen. Punktuell   eine Zwei-Frauen-WG, in der beide mit demselben Mann   ständige geisteswissenschaftliche Arbeit, die sich nicht
           eingesetzte große Wandöffnungen sorgen für Licht und   verheiratet waren. Er spricht auch mit einem Architekten   an Zitate klammert, sondern an eigene Beobachtungen.
           Luftdurchlässigkeit. Die Häuser werden mit Holzöfen und   und mit einem Immobilienentwickler. Das Buch liest sich   Neben den behandelten „Kernobjekten“ großer Namen
           elektrischen Heizsteinen beheizt. Hölzerne Tische, Bänke,   leichtgängig, die sich darin kreuzenden Lebensgeschich-  werden auch einige unbekanntere Beispiele studiert, die
           Betten wurden durch sorgfältig ausgewählte ortsspezifi-  ten  sind zum  Schmunzeln  –  sympathisch,  menschlich   es zu erkunden lohnt. Das Haus High and Over im engli-
           sche Fundstücke ergänzt: Glas, Leuchten und Polstermö-  und amüsant. Aber vor allem regen sie zum Grübeln an:   schen Amersham, errichtet 1929 nach Plänen von Amyas
           bel. Zahlreiche Farbfotos dokumentieren die unterschied-  „Muss es nicht mehr Möglichkeiten des Zusammenlebens   Connell, empfängt mit zentralem Springbrunnen. Für eine
           lichen und individuellen Raumwirkungen. Das Buch zeigt,   außerhalb der klassischen Kleinfamilie oder einer Zweck-  moderne Fabrikantenvilla nahe Brüssel plante Architekt
           dass der Erhalt der Häuser aus den weit zurückreichenden   WG geben?“, fragt Reichardt eingangs, und er hat recht! In   Marcel Leborgne ein dreigeschossiges Atrium mit golde-
           Baujahren 1690, 1800, 1600 und 1150 keine Langzeitprojek-  Bezug auf unsere Wohnmodelle könnten wir doch weitaus   nen Säulen. Interessant ist auch der kurze, abschließende
           te sein müssen und – mit tatkräftiger Hilfe aus der Umge-  fantasievoller werden und damit auch unser Nachdenken   Blick nach Amerika. Wer sein Wissen in diesem Gebiet
           bung – gut gelingen können.   Dr. Franziska Puhan-Schulz  über Architektur verändern.                kk  vertiefen will, kommt hiermit auf den neuesten Stand. kk


            Neues Leben für alte Häuser              Zimmer für immer. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben  Der Eingang der Moderne
            Herausgegeben von Tatjana Suiter, Text von Heike Papenfuss.  Von Lars Reichardt.  Von Viviane Taubert.
            Erschienen 2023 im Verlag Hirmer, München.  Erschienen 2023 im Verlag Kein & Aber, Zürich.  Erschienen 2022 im Verlag Dietrich Reimer, Berlin.
            Deutsch. 160 Seiten. Hardcover. Format 23 × 28 cm. 24,90 EUR.  Deutsch. 224 Seiten. Hardcover. Format: 12,5 × 20,5 cm. 24,00 EUR.  Deutsch. 256 Seiten. Hardcover. Format: 17 × 24 cm. 49,00 EUR.
            ISBN 978-3-7774-4088-0                   ISBN: 978-3-0369-5004-4                  ISBN 978-3-496-01637-3

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