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REDINGS ESSAY
                           HERZGEFLIMMER IM




                              ZEITGEISTZIMMER!





                                                             Ein Essay von Dominik Reding





            E   NDLICH RAUS! Raus aus dem Wohnzimmer mit seinem „Ewigen Licht“, dem glim-  NEIN! Musik von Velvet Underground klingt gut, Neonbuchstaben sind Pop-Art-cool, Ka-
                menden, plappernden Fernseher, raus aus den Sofakissen, raus aus der Couchgar-
                                                                          chelgelb, Babyblau und Mintgrün machen was her, Typografien von Neville Brody, Filme
            nitur, raus aus der Küche, mit den Platzdeckchen und Blumengardinen und dem Sonn-  von Derek Jarman, Fotos von Cindy Sherman sind Hingucker, kunststoffbunte Kugelsessel
            tagsgeschirr, dem Römertopf, den Kuchengabeln, dem Fischbesteck, raus aus dem  und Aufblas-Sofas aus den Sixties sind stylish (und unbezahlbar), die Kaffeetasse „Flash“
            Kinderzimmer mit „Jugendzimmer“-Einrichtung, raus aus den Putz-, Saug-, Entstaub-,  von Dorothy Hafner ist schrill (und runtergesetzt, mit Macke, knapp bezahlbar),und eine
            Spül-, Wisch-Aufräum-Ritualen, raus aus dem Bad mit Gästehandtuch, Duftstein und Klo-  Ausstellung in Hamburg präsentiert gerade Resopaltische in Zickzack-Form, Sofas aus
            Matte, raus aus den täglich gedüngten, sauber gemähten, akkurat beschnittenen Vorgär-  Bügelbrettern und Stühle aus rostigen Armierungseisen. Ja, DESIGN ist IN! Und drei, ei-
            ten, raus aus den Blicken und dem Tuscheln der Nachbarn, raus aus dem Vorort, dem  gentlich vier Maler, die quasi Designer sind: Keith Haring mit seinen Logo-Strichmänn-
            Reihenhaus, der Stadtrandsiedlung, raus aus der elterlichen Supervision, raus auch aus  chen, Gilbert & George mit ihren spiegelglatten Riesenformaten und Andy Warhol natür-
            dem Streit um Kleinkram und dem Schweigen bei echten Problemen. Endlich raus von  lich, der in der „Factory“ in New York seine Suppendosen siebdruckt. In der Factory steht
            Zuhaus! Und rein in das erste, eigene Zimmer! Ganz gleich, ob WG-Zimmer, Studenten-  nicht viel rum, und das,was rumsteht, wurde mit Silberfarbe überpinselt, von den Wän-
            bude oder sogar Einzimmerwohnung, es wird dein EIGENES! Und dann? WIE WOHNEN?  den bis zum Bett. SO wohnen, SO arbeiten, SO leben. Aber was machst du, wenn sich
            Nicht wie die Eltern! Nicht wie in der Werbung! Nicht wie in Fernsehserien! Nicht wie in  dein Studium nicht wie eine durchtanzte Nacht im „Studio 54“ anfühlt? Wenn man aus
            Möbelkatalogen! Keine Wohnung als Repräsentanz, als Ausstellungsstück, als Symbol.  deinem Zimmerchen nicht den Central Park sieht und deine Miete schon den ganzen Ne-
            Kein Sauberkeits-, Ordnungs-, Vorzeige-Kult.                                             benjob-Lohn und das elterliche Taschengeld
            Keine Räume, keine Möbel, keine Hausratssa-                                              noch dazu auffrisst? Dann ERFINDE dir eine
            chen, die NIE benutzt werden (oder NIE benutzt                                           Welt! Geh in Baumärkte, die billige Kellermöbel
            werden dürfen), keine Fernseh-, Vitrinen-,                                               anbieten, die deine Eltern nicht mal für den Kel-
            Schuhschränke, keine Schirmständer, Hutabla-                                             ler anschaffen würden: Stahlregale, Blechkisten,
            gen, Nachttischchen, Bettvorleger, Gewürz-                                               Alu-Spinde. Und die doch so schön silbern glän-
            borde, Tagesdecken, Fußabtreter, überhaupt                                               zen, wie die Wände in Andy’s Factory! Du
            keine Einrichtungen und keine 20-Uhr-Tages-                                              kannst auch Sachen FINDEN, im Sperrmüll, in
            schau und schon gar keine Jugendzimmer-                                                  Baucontainern, auf den Parkplätzen der Kauf-
            Möbel! Aber was kommt HINEIN? Da ergeben                                                 häuser: ausrangierte Reklametafeln, wackelige
            sich, hart bis ans Ende gedacht, nur zwei Mög-                                           Wühltische, verbogene Stellagen und Baulam-
            lichkeiten: Entweder NICHTS! Dein selbstbe-                                              pen, Einkaufswagen, Europaletten noch dazu.
            stimmter Raum als Ort strengster optischer und                                           Oder du kannst – ausnahmsweise, wenn die
            inhaltlicher Askese: weiß getüncht, leer ge-                                             Dinge nur absurd genug sind – auch etwas KAU-
            räumt, ungestaltet, bis auf die Matratze, ein                                            FEN: eine Shampoo-Flasche in Miss-Piggy-
            paar Kleidungsstücke auf dem nackten Fuß-                                                Form, einen Blech-Lenin aus Ostberlin, einen
            boden, eine einsame Glühbirne unter der Decke                                            mit Stars and Stripes bedruckten Bettbezug,
            und ein, zwei Poster (von nur Insidern bekann-                                           oder du kannst auch aus Muttis Haushalt etwas
            ten, niemals in den Charts platzierten Bands) an                                         BORGEN: Eierwärmer in Hühnerform, Likörglä-
            den Wänden. Das erste, eigene Zimmer als tie- Bildgrafik: Benjamin Reding                ser mit Schliff, oder den „3mix 3000“, ein elek-
            fes Ausatmen nach der Schnappatmung zu                                                   trisches Rührgerät, das wie ein Raumschiff aus-
            Hause, als Stille nach dem TV-Dauerrauschen,                                             sieht. Und du kannst, weil Kaufen langweilig,
            als Mönchszelle nach dem Kaufhaus-Chic. Hier                                             Finden oft erfolglos und Borgen fast immer mit
            wird hinter keinem Schrank, unter keinem Bett, hinter keinem Sofa ein Verstecken mehr  Zank verbunden ist, etwas tun, das dich glücklich macht: Du kannst etwas SELBER MA-
            möglich sein. Oder ein: ALLES REIN! Übervoll, überquellend, übermütig, überschön und  CHEN! Aus einer Opel-Frontscheibe und zwei Lochblechen einen Glastisch, aus einem
            überbillig, übermüllig, gewollt hässlich, scheinbar nutzlos, aber immer zu irgendwas zu  Plastik-Straßenpfosten und einer Neonröhre ein leuchtendes Pop-Art-Kunstwerk und aus
            gebrauchen. Alles an allem gleich wertschätzend: zerlesene Comics und getragene Sok-  Papas alter Faller-Bahnlandschaft mit etwas gelber Lackfarbe ein geheimnisvoll sinn-
            ken, dreibeinige Stühle und zerrissene Matratzen, Kinderspielzeug und Motorrad-Werk-  freies Wunderding zaubern – krönender Abschluss deiner Raum-Kreation, dem ZEIT-
            zeug, Betonplatten und Schallplatten, Metallica und Beethoven, Bücherregale und Regale  GEIST-ZIMMER. Und wenn alles auf „On“ gestellt ist, der Lichtpfosten leuchtet, Miss Piggy
            aus Büchern, Hanfpflanzen und Ficus Benjamina, Räucherstäbchen und Schweißbänder,  auf dem Opel-Glastisch ihren Platz gefunden hat und alles neu nach Farbe, Kleber, frisch
            Coca und Cola. Von allem alles und davon zu viel! Dein erstes WG-Zimmer als Chaos-  zugeschnittenem Sperrholz riecht, dann stell dich davor, schau dich um, atme tief ein
            Raum, als Bühne, als Ort zum Zeitvergeuden, Dreckigsein und Liebemachen, als restlos-  und spüre es: das Herzgeflimmer im Zeitgeistzimmer! Ach, und was machen die Ande-
            lustvolle Antithese zu jedem schulischen, staatlichen, häuslichen Ordnungswahn. Aber  ren? Die wohnen noch zu Hause. Zum Vergessen! Ja, Sie haben es bemerkt. Miss Piggy,
            was machst du, wenn du weder im kahlen Askese-Zimmer ein „besserer Mensch“ wer-  Derek Jarman, Kaffeegeschirr-Flash? Der Aufruf zum ersten eigenen Wohnen liegt ein
            den noch im Chaos-Raum versinken und trotzdem anders als die Anderen, auf jeden Fall  paar Tage zurück. Der 19-Jährige war/bin ich. (Inklusive seines Hangs zu GROSSBUCH-
            anders als deine Eltern wohnen willst? Und vielleicht sogar noch einen krausen Sinn fürs  STABEN). Im Kern aber hat das Statement noch Bestand. Mit einem Unterschied: Heute
            Ästhetische hast? Bleibst du zu Hause? Auf dem Sofa vorm heimischen Fernsehgerät?  würde der junge Aufrufer keine Wohnung mehr bekommen.

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