Page 72 - AIT0721_E-Paper
P. 72

WOHNEN  •  LIVING

































            WOHNEN MIT MORRIS

            IN STUTTGART



            Entwurf • Design The Baukunst Dynamites, Stuttgart


            Während in der Moderne noch das Paradigma der Funktionstrennung
            galt, stehen im Mittelpunkt zeitgemäßer Bauaufgaben immer wieder
            Systeme aus temporären, flexiblen und hybriden Raumgefügen. Mit
            ihrem experimentellen Monospace „Wohnen mit Morris“ tragen The
            Baukunst Dynamites zu diesem Paradigmenwechsel bei und demon-
            strieren, wie weiche Wände mit ihren Transparenzen und Überlage-
            rungen immer wieder neu anpassbare Wohnszenarien erzeugen.


            von • by Janina Poesch, Stuttgart
            D   icht besiedelte Metropolen sind oft attraktiv, erschwinglicher Wohnraum jedoch
                knapp. Dementsprechend muss er clever genutzt werden – eine Aufgabe, der sich
            The Baukunst Dynamites gerne widmen: Das international tätige Gestaltungskollektiv an
            der Schnittstelle von Architektur, Design, Kunst und Theorie denkt den urbanen Wohn-
            raum weiter und beweist mit seinem aktuellen Projekt, wie Wohnen auf kleinstem Raum
            zeitgemäß interpretiert und Mietwohnungsraum für dicht besiedelte Städte nachhaltig
            nutzbar gemacht werden können: Unter der Leitung von Sarah Behrens und Ina Westhei-
            den transformierte das Team eine Zweizimmerwohnung in einem Geschosswohnungsbau
            der 1930er-Jahre im Stuttgarter Süden mit winzigen, monofunktionalen Räumen in einen
            großzügigen, multifunktionalen Raum mit flexiblem Grundriss. Um die 36 Quadratmeter
            große Fläche voll ausschöpfen zu können, lassen sich dabei alle Funktionen des täglichen
            Lebens variabel zu- oder wegschalten. Hierfür liegen Arbeiten, Wohnen, Kochen, Essen,
            Duschen und Schlafen auf etwa zehn Quadratmetern der Gesamtfläche entlang der Au-
            ßenwände – wobei die Bereiche einzeln (oder  gemeinsam) zu der 26 Quadratmeter gro-
            ßen, funktionsleeren Fläche in der Raummitte gezielt ergänzt oder weggenommen wer-
            den können. So kann sich die Bewohnerschaft an einem 28 Quadratmeter großen Bad,
            Arbeits-, Wohn-, Ess- und Schlafzimmer oder einer Küche erfreuen – ohne eine 168 Qua-
            dratmeter große Wohnung unterhalten zu müssen. Die umlaufenden, textilen Wände, die
            diese Mehrfachbelegung ermöglichen, lösen sich dabei in verschiedene Schichten, von
            opak bis transparent, auf und legen Objekte und Möbel nach Bedarf nacheinander oder
            auch parallel frei. Die äußerste opake Schicht – der Vorhangklassiker Willow Bough von
            William Morris aus dem Jahr 1895 – prägt in vier unterschiedlichen Farbtönen den Raum
            wesentlich und wirkt mit seinem Ornament aus stilisierten Blattmotiven als raumauflö-
            sendes Element. Mit nur wenigen Handgriffen lässt sich das Erscheinungsbild des Mono-
            space damit nicht nur visuell schnell verändern, sondern sich die neue Wohntypologie
            ebenso an die unterschiedlichsten Bedürfnisse der hier lebenden Personen anpassen.

            072 •  AIT 7/8.2021
   67   68   69   70   71   72   73   74   75   76   77