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Vorbild: Rundfunkhaus des WDR
in Köln, aus: „Architektur und
Wohnform“ (später AIT), 1952
auf erotisch-exotisch Abwegen. Wie stellt man so was dar, dekadente Bürgerlichkeit auf
der lei Abwegen? Mit roten Plüschsofas und Barockputten aus Gips? Ein beherztes Durch -
blättern der „Architektur und Wohnform“ half: Im Jahrgang 1969 entdeckten wir eine
Fotografie der Casa Bucerius, jener Villa über dem Lago Maggiore bei Locarno, die Richard
Neutra für den Verleger Gerd Bucerius als geheimen Hide-out in die letzten Ausläufer der
Schweizer Alpen setzte. Besonders die um die Hauskanten herumgeführten Neonbänder
faszinierten uns, verwandelten sie doch die massigen Dach-Volumen in feine, weiße Li - Filmstill: Gesellentreffen, aus: „Für den unbekannten Hund“, 2007
nien. Wären in einem solchen Setting nicht allerlei bourgeoise Eskapaden denkbar? Im
Schwimmbad einer leer stehenden Fabrikanten-Villa rekonstruierten wir die Neutra´sche
Idee mit 100 Neonröhren und 50 Rollen Nesselstoff. Hier auf dem kachel-glitzernden reiten wir ein neues Projekt vor. Einen Kinderfilm. Mit Spannung werden wir wieder
Grund des wasserlosen Pools würden die Gesellen den Verlockungen der Bourgeoisie be - die dicken Bände unserer Alexander-Koch-Bibliothek aus den Regalen ziehen und nach
geg nen und, wie könnte es auch anders sein, erliegen. Set-Ideen durchstöbern. Und dieses Mal die aktuellen AIT-Hefte noch dazu. Gehört doch
In einer der letzten Szenen des Films sollten die Wandergesellen entscheiden, ob sie den das Betastungsritual der fingerschmeichelnden 3D-Cover längst zu unserer monat lichen
schuldbeladenen Betonbauer in ihre Gruppe aufnehmen oder nicht. Keine Geheimnisse Filmbüro-Routine. Wir werden lesen und aussuchen und diskutieren und entde cken
dürfen sie mehr voreinander haben, nur wer ehrlich ist, wird aufgenommen. Als und auswählen und ... uns freuen. Freuen, dass es sie gibt, die AIT. Und die, die sie
Filmset suchten wir nach einem Raum, der genau das abbilden sollte, ein Ort, in dem machen. Seit 125 Jahrgängen. Unsere Liebesgeschichte geht weiter. Hoffentlich bleibt sie
kein falsches Wort mehr möglich ist. Aber kann es so einen Raum überhaupt geben? Es uns treu, die AIT, und wenn doch nicht, dann werden wir um ihre Gunst kämpfen, mit
sind ja nicht Räume, die lügen oder ehrlich sind, sondern die Menschen in ihnen. Oder Verve, man soll sich ja bei Liebesdingen nie ganz sicher sein.
ist es doch manchmal umgekehrt? Wir grübelten und suchten und ... entdeckten! Das Ein Epilog: Im Jahrgangsband 1924 der „Innen-Deko ra tion“, der Band, mit dem unsere
Januarheft der „Architektur und Wohnform“ 1952 zeigt unter der Überschrift „Raum Neuköllner Love-Affair begann, findet sich auf Seite 254 die Abbildung einer mondänen
zwischen Erwartung und Erlebnis“ die Etagen wohnung. Die Wände sind mit exo-
Fotografie einer Ein gangs halle. Ein klarer, tischen Mitbringseln, von der afrikanis-
heller, offener Raum. Groß, ohne Pathos, chen Fruchtbar keitsfigur bis zum süd -
detailreich, ohne Krämergeist, elegant ameri kanischen Schrumpfkopf dekoriert,
ohne Kitsch. Freu dig, ja emphatisch lobte schweres, reprä sen tatives Mobiliar signal-
der Artikel das neue Rundfunkgebäude. isieren Situiertheit und Bedeutung. Es ist
Und tatsächlich, in diese Architektur die Wohnung von Fritz Lang, dem Regis -
würde das Lü gen schwer werden. Anders seur von „Dr. Mabuse“, „M, eine Stadt
als in den zwölf Jahren Diktatur zuvor. sucht einen Mörder“ und „Metro polis“,
Jetzt wussten wir, wie unser Film-Set des dem bis heute lebendigsten Kult film der
„wahrhaftigen Raums“ aussehen musste. 1920er-Jahre. Neben seinem Schreib tisch,
Und im ehemaligen Feierabendheim unter einem Totem stapeln sich Zeit -
eines längst aufgegebenen Chemiewerks schriften. Aber es sind keine Filmzeit -
fanden wir ihn. schriften, die der Regisseur da in Griffnähe
Der Kinofilm wurde ein Erfolg. Die aufbewahrt. Der Titel eines der Hefte lässt
Anregungen, Ideen, Räume, Architek - sich auf der Fotografie noch entziffern:
turen aus unseren 30 Jahrgangsbänden Filmemacher und AIT-Kolumnisten: Benjamin und Dominik Reding „Innen -Dekoration“. Wir können ihn nicht
hatten Früchte getragen. Unsere Set-Ent - mehr fragen, unseren Filmkollegen Fritz
würfe, die Drehorte, das Film-Design wurden wahrgenommen, die Presse, das Fern - Lang, warum er den Vorgänger der AIT gelesen und gesammelt hat, aber er tat es, da sind
sehen berichteten. Und dann geschah etwas, das in der katholischen Kirche nur mit wir uns ziemlich sicher, aus demselben Grund wie wir heute: Um mit einer brillant
päpst-lichem Siegel, im Alltag selten, in Liebes dingen aber doch ab und an vorkommen geschriebenen und fotografierten und gestalteten Architekturzeitschrift über alle
soll. Es geschah ein Wunder! Vielleicht nicht für die AIT, die ja immer nah dran ist am Strömungen der Baukunst weltweit immer up to date zu sein. Vielleicht hätte es Fritz
aktuellen Puls von Architektur und Design. Aber für uns. Die AIT wurde auf unsere Langs Meisterwerk „Metropolis“ ohne die „Innen-Dekoration“ also nie gegeben.
Film-Ausstattung aufmerksam und bot uns dazu Ausstellungen an. In den Archi tek tur - Liebe, geliebte AIT, herzlichen Glückwunsch zum 125. Jahrgang! Möge Deine Begeisterung,
Salons in Hamburg, Köln und München. Begeistert sagten wir ja. Unsere Arbeit kehrte Deine Lust am Entdecken, Deine Liebe zur Architektur, zum Design, zur Gestaltung, zur
an den Ursprung ihrer Ideen zurück. Und wurde selbst Teil der 125 Jahrgänge AIT- Kreativität und Deine große, tiefe Zuneigung zum Leser weiter wirksam sein.
Geschichte. Für uns ein, im wahrsten Sinne des Wortes, historisches Gefühl. Jetzt be - Mindestens die nächsten 125 Jahrgänge!
AIT 7/8.2017 • 065