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125 JAHRE AIT REDINGS ESSAY
MIT VERVE!
Eine Liebeserklärung von Dominik und Benjamin Reding
Bildungssituation via „Rütli-Schule“ bundesweit für Schlagzeilen sorgte, sollten wir etwas
entdecken, was uns, unseren Glückshormonspiegel und unseren Blick auf die Welt verän-
dern sollte. Im Schaufenster eines dämmrigen Antiquariats in einer Nebenstraße lag es be -
scheiden zwischen zerlesenen Arzt-Romanen, fleckigen Kochbüchern und vergilbten „Fix-
und-Foxi“-Heftchen. Warum bin ich hineingegangen? Warum habe ich nach dem ano nym
eingebundenen Buch gefragt? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es Intuition, geheime
Anziehung, oder das unerklärliche Schicksal, das bei Liebesdingen manchmal eine Rolle
spielt: „XXXV. Band – Jahrgang 1924 der INNEN-DEKORATION. Die gesamte Wohnungs -
kunst in Bild und Wort. Herausgeber: Hofrat Alexander Koch“. Das Deckblatt gab dem
Inhalt einen Namen. Fünfundreißigster Jahrgang ..., uh, das war ja 1924 schon richtig alt
und „Innen-Dekoration“ und „Hofrat“ ... das klang nach onkelhaften Einrichtungsvor -
schlä gen mit Perserteppichen, Kristallblumenvasen und grob gemusterten Tapeten. Ich
zögerte, aber schon das erste Umblättern belehrte mich eines Besseren. Das großzügige
Format, das schwere Papier, die gestochen scharfen Kupfertiefdruck-Fotos, die knappen,
charmanten Texte und dann erst die gezeigte Architektur! Nein, hier müffelten keine
betulichen Einrichtungs-Tipps nach Gründerzeit-Staub und neobarockem Ornament-
Quark, hier erwartete den Leser ein optisches, haptisches und bibliophiles Vergnügen.
Eilig, fast so, als könnte dieser besondere Moment ungenutzt vorüberziehen, erwarb ich
das Buch, lief damit quer durch Neukölln und präsentierte es außer Atem meinem Bruder.
Eine versunkene architektonische Welt tat sich vor uns auf, mit geheimnisvollen, heute
fast vergessenen Protagonisten: Leo Nachtlicht, Otto Firle, Fritz August Breuhaus, Ernst
Filmstill: Bourgeoises Anwesen, aus: „Für den unbekannten Hund“, 2007 Licht blau, Heinrich Straumer, Ludwig Kozma, Paul Zucker. Namen wie Zigarrenrauch, wie
goldgeprägte Visitenkarten. In der „Innen-Dekoration“ des Jahres 1924 wird architek-
tonisch verblüfft, geprotzt, gespielt. Noch ist das „Bauhaus“ weit weg, eine kleine, kaum
bekannte Kunstschule in Weimar. Nein, auf den vom Hofrat edierten Seiten finden sich
D er Zug glitt dahin, vibrationslos, wie immer. „Sagen Sie, warum verbrennen Sie keine Ent würfe, die allein einem Zweck dienen wollen, keine Wohnungen für das
„Existenzmini mum“, keine Typenhäuser mit Multifunktionsmobiliar, kein zusammen-
Bü cher?“ Clarisse fragte es mit weicher Stimme, mehr mitleidig als ärgerlich. „Na,
das ist ein Job wie jeder andere. Gute Arbeit mit viel Abwechslung. Mittwochs verbren- klappbares Tisch schrankbett. Hier darf Architektur ganz ungeniert Selbstzweck sein. Aber
nen wir Tolstoi und samstags und sonntags Schopenhauer und Sartre.“ Montag zupfte
an seiner Feuerwehr-Uniform und schaute aus dem Abteilfenster, aber draußen war
nichts, nur ab geerntete Stoppelfelder. „Sie mögen also keine Bücher?“ Clarisse betra-
chtete sein Gesicht, während sie fragte, es schien besorgt, nicht hart oder heldisch.
Montag schüttelte den Kopf. „Mögen Sie schlechtes Wetter?“, er sagte es ungehalten.
„Mögen Sie Regen?“, Claris se lächelte. „Ja, ich liebe den Regen“, sagte sie.
Wir schauten noch ein paar Minuten Francois Truffauts „Fahrenheit 451“, allein, im leer -
ge räumten Arbeitszimmer, dann schalteten wir den Computer aus. Es wurde Zeit, der
Umzugswagen wartete. Wir packten das Laptop unter den Arm und fuhren los. Nach der
Premiere unseres Kinofilms „Oi!Warning“ und den letzten Drehtagen unseres Tatorts „Fet -
te Krieger“ verlegten wir unsere Filmproduktionsfirma von Hamburg nach Berlin. Nach
Ber lin-Neukölln, um es geografisch genau zu sagen. Den Stadtteil, über den man so viel
liest, aber wir damals nichts wussten. Groß und sonnig war unser neues Büro und lag drei
Treppen hoch in einem Altbau. Fast schüchtern betraten wir den knarrenden Parkett -
boden, bestaunten die Gründerzeit-Stuckdecken und stellten Geranientöpfe auf die guss-
eisernen Balkone. Und dann gingen wir hinaus. Erste Erkundungsgänge ins spröde, laute,
fordernde Neukölln. Aber gerade in einer Nachbarschaft, die europaweit die höchste
Vorbild: Casa Bucerius, aus
Dichte an Sozialhilfebedürftigen aufweist, die höchsten Kriminalitätsraten, die größte Ar - „Architektur und Wohnform“
mut, die meiste Gewalt, deren örtliches Kaufhaus keine Kunstbücher führt und deren (später AIT), 1969
AIT 7/8.2017 • 063