Page 66 - AIT0717_E-Paper
P. 66

125 JAHRE AIT REDINGS ESSAY





               nicht allein we gen ihrer verspielten Schönheit, ihres überbordenden Detailreichtums und
               der  makellosen  handwerklichen  Ausführung  sprachen  uns  die  dort  vorgestellten
               Architekturen an, wir spürten, hier war uns Filmemachern ein Schatz in die Hände gefall-
               en, ein seltener, ein kostbarer Schatz. Das Skizzenbuch eines Filmarchitekten! Und eines
               begabten dazu! Die in der „Innen-Dekoration“ vorgestellten Bauten und Räume hatten
               genau jene Qualitäten, die bis heute einen guten Set-Entwurf ausmachen: Kühnheit, ja
               Exaltiertheit  im  Entwurf,  der  Hang  zum  Effekt,  die  optische  Konzentration  auf  eine
               dominierende  Gestaltungsidee  und  das  Prinzip  des  „Bigger  than  Life“,  der  lustvollen
               Übersteigerung. Keine Filmar chi tek tur zeigt die Realität, sie erfindet eine neue, viel stärker,
               wuchtiger, dramatischer, schöner, packender, bewegender, verführerischer, als es jede
               “echte“ Wirklichkeit jemals sein kann. Nach diesem starken Entwurfstobak kann man
               süchtig werden. Und wir wurden es. Rasch suchten wir nach Nachschub. Der „Hofrat“
               kam  uns  entgegen.  Die  „Verlagsanstalt  Alexander  Koch“  war  und  ist  ein  fleißiger  Vorbild: Rathaus Greven, aus „Architektur und
               Herausgeber: Aus der „Innen-Dekoration“ wurde die „Architektur und Wohnform“, aus  Wohnwelt“ (später AIT), 1977
               der „Architektur und Wohnform“ die „Architektur und Wohnwelt“ und aus ihr schließlich
               die „Architektur, Innenarchitektur, Technischer Ausbau“, kurz und prägnant „AIT“. Auf
               Trödelmärkten, im Internet, in Antiquariaten, selbst auf Ebay hielten wir Ausschau nach
               historischen Heften des „Alexander Koch Verlages“. Und entdeckten wir irgendwo ein  Kasernen-Kasinos und sahen doch den Mut der Redaktion, noch 1934 Hans Scharouns
               Exemplar oder gar einen ganzen Jahrgang, trugen wir die Neuerwerbung unruhig wie ein  Haus  Schminke  und  sogar  noch  1943  ein  Landhaus  Alvar  Aaltos  zwischen  die
               Polarfuchs seine seltene Beute zurück in unser Büro und blätterten ... und vergaßen die  Eichentruhen und Zirbelkiefer-Stuben zu schmuggeln, bewunderten die Hefte aus den
               Arbeit und die Zeit und das Wetter ... und wir staunten, jubelten, begrüßten, fürchteten,  Wiederaufbaujahren, die schnell alle Nierentisch-Gemütlichkeit gegen den International
               bewunderten und begrüßten. Staunten über das florale Gewucher des Jugendstils in den  Style tauschten und sich binnen weniger Jahre mit brillanten Fotostrecken zu den Bauten
               Innen-Dekorations-Ausgaben um 1900, in denen sogar Henry van der Velde höchstselbst  und Möbelentwürfen Richard Neutras, Arne Jacobsens, Egon Eiermanns, Eero Saarinens
               ein  Jahr  lang  die  Geschicke  der  Zeitschrift  bestimmte,  jubelten  über  die  exstatischen  und vieler begabter Zeitgenossen auf die gestalterische Höhe der Zeit katapultierten. Und
               Entwurfs-Individualismen der Hefte aus den frühen 1920er-Jahren mit ihren zickzackig-  staunten schließlich wieder über die Hefte der 1970er- und frühen 1980er-Jahre, als der
               expressio-nistischen Rauchsalons, Musikzimmern, Ankleide zim mern, Wintergärten, Tee-  Inhalt sehr textlastig, die Fotos dafür Pop-Art-bunt wurden, als das Space Age vom Layout
               Pavillons, Bars und Kabaretts, Blumentischchen und Likör-Schränkchen mit geschliffe-  bis zur Schrifttype das Heft-Design bestimmte, auf dem Cover erstmals der Titel „AIT“
               nem  Glas  und  elfenbeinernen  Intarsientüren,  begrüßten  die  Entdeckung  der  kühlen  prangte und sogar das Firmen-Hochhaus des herausgebenden Verlages augenscheinlich
               Neuen Sachlichkeit nach dem Paukenschlag der Stuttgarter Weissenhofsiedlung  in den  einem Raketen-Modul nachgebildet wurde. Rund und weiß, geradezu stählern.
               Heften  der  späten  1920er-Jahre,  in  denen  Walter  Gropius  über  den  „Maschinengeist“  Wir atmeten aus. Wir legten die Hefte beiseite. Wir waren voll. Vollgesogen. Mit Archi -
               schreiben und Le Corbusier gleich die grundsätzliche Frage „Wo beginnt die Architektur?“  tek tur, Design, Gestaltung, Grafik, Fotokunst, mit 500 Varianten einen Stuhl zu entwer-
               stellen  durfte,  liebten  die  „Innen-Dekoration“  der  frühen  1930er-Jahre,  ihre  Stahlrohr-  fen,  1.000  Grundrissen,  Ansichten,  Schnittzeichnungen,  mit  Teppichmustern,
               Eleganz  und  Ozeandampfer-Grandezza,  fürchteten  die  aus  den  spä teren  1930er-  und  Reformkleidern,  String-Regalen,  Werbungen,  Erklärungen,  Texten,  Farben,  Formen,
               1940er-Jahren  mit  ihren  bajuwarischen  Bauernmöbeln,  Kratzputz-Häus chen  und  Lampenentwürfen, Lebens entwürfen, Weltentwürfen. Ein Rausch. Über 30 Jahresbände
                                                                             der „Innen-Dekora tion“, „Architektur und Wohnform“, „Architektur und Wohnwelt“ und
                                                                             der frühen Ausga ben der AIT füllten inzwischen unsere Regale.  Jetzt musste das Aufge -
                                                                             so gene  heraus,  musste  verwandelt,  neu  montiert,  zu  etwas  Eigenem  werden:    Wir
               Filmstill: Gefängnishof, aus: „Für den unbekannten Hund“, 2007
                                                                             schrieben ein Dreh buch, wir entwickelten unseren nächsten Kinofilm: Ein Jugenddrama.
                                                                             Die  Coming-of-  Age  Ge schichte  eines  Betonbauergesellen,  der  durch  eine  Gewalttat
                                                                             Schuld auf sich lädt, einer Gruppe Wander gesellen begegnet und in dieser Gruppe welt -
                                                                             offener, junger Menschen seine Schuld begreift und von da an nach einem Weg der Til -
                                                                             gung, der Abbitte, der Wieder gutmachung sucht. Die Geschichte spielt im Hier und Jetzt.
                                                                             Wir hätten der Aus stattung also einen realistischen Touch geben können. Mit beliebigen
                                                                             Räumen, ungestylten Sets. Und einer Kamera, die einfach „draufhält“, ganz gleich,  ob
                                                                             da ein Lichtschalter, ein Kabel oder eine Reklametafel ins Bild ragt. Aber wir hatten un -
                                                                             sere 30 Jahrgangsbände der AIT und ihrer Vorgänger im Kopf. Und die hatten an uns
                                                                             Filme macher  eine  Botschaft:  Dass  ein  remarkabler  Ort,  ein  kraftvoller  Raum,  eine
                                                                             geglückte Filmarchitektur erschaffen werden muss, mit nur wenigen Materialien, weni-
                                                                             gen Farben, klar gesetztem Licht und sicheren, sich ihres Effekts bewussten Proportionen.
                                                                             Und wir ahnten, wo wir die Ideen für solche Film-Orte finden würden: Eine Gefäng nis -
                                                                             szene sollte den Film eröffnen, aber über den Look der Haftanstalt wurden wir uns nicht
                                                                             einig. Wilhelminisch, historistisch oder wie im Stummfilm, mit steilen Gitterschatten auf
                                                                             grau  geschlämmten  Back stein wänden?  Wir  fuhren  von  JVA  zu  JVA,  aber  die  realen
                                                                             Knäste sahen mehr wie Lagerhallen mittel ständi scher Unternehmen aus. Ein Blick in die
                                                                             „Architektur und Wohnwelt“ Jahr gang 1977 klär te. Die Abbildung der Eingangshalle im
                                                                             damals neuen Rathaus der münsterländischen Kleinstadt Greven zeigte uns einen Knast,
                                                                             wie wir ihn so radikal, so inhuman in der Rea lität nicht finden konnten. Tonnenschwere
                                                                             Unterzüge, Beton brut, Raum ohne Maßstab. In einer Autobahnunterführung ließen wir
                                                                             den „Genius loci“ des Grevener Rathauses dann atmosphärisch wiedererstehen.
                                                                             Einige Drehbuchseiten weiter verlangte die Filmhandlung das Innenleben der Villa eines
                                                                             Reeders. Die Szenen im hanseatischen Anwesen waren auf Kontrast angelegt: Außen
                                                                             solide Bürgerlichkeit, innen die dekadente Spielwiese einer lebenslustigen „Bourgeoisie“



               064  •  AIT 7/8.2017
   61   62   63   64   65   66   67   68   69   70   71