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125 JAHRE AIT REDINGS ESSAY
nicht allein we gen ihrer verspielten Schönheit, ihres überbordenden Detailreichtums und
der makellosen handwerklichen Ausführung sprachen uns die dort vorgestellten
Architekturen an, wir spürten, hier war uns Filmemachern ein Schatz in die Hände gefall-
en, ein seltener, ein kostbarer Schatz. Das Skizzenbuch eines Filmarchitekten! Und eines
begabten dazu! Die in der „Innen-Dekoration“ vorgestellten Bauten und Räume hatten
genau jene Qualitäten, die bis heute einen guten Set-Entwurf ausmachen: Kühnheit, ja
Exaltiertheit im Entwurf, der Hang zum Effekt, die optische Konzentration auf eine
dominierende Gestaltungsidee und das Prinzip des „Bigger than Life“, der lustvollen
Übersteigerung. Keine Filmar chi tek tur zeigt die Realität, sie erfindet eine neue, viel stärker,
wuchtiger, dramatischer, schöner, packender, bewegender, verführerischer, als es jede
“echte“ Wirklichkeit jemals sein kann. Nach diesem starken Entwurfstobak kann man
süchtig werden. Und wir wurden es. Rasch suchten wir nach Nachschub. Der „Hofrat“
kam uns entgegen. Die „Verlagsanstalt Alexander Koch“ war und ist ein fleißiger Vorbild: Rathaus Greven, aus „Architektur und
Herausgeber: Aus der „Innen-Dekoration“ wurde die „Architektur und Wohnform“, aus Wohnwelt“ (später AIT), 1977
der „Architektur und Wohnform“ die „Architektur und Wohnwelt“ und aus ihr schließlich
die „Architektur, Innenarchitektur, Technischer Ausbau“, kurz und prägnant „AIT“. Auf
Trödelmärkten, im Internet, in Antiquariaten, selbst auf Ebay hielten wir Ausschau nach
historischen Heften des „Alexander Koch Verlages“. Und entdeckten wir irgendwo ein Kasernen-Kasinos und sahen doch den Mut der Redaktion, noch 1934 Hans Scharouns
Exemplar oder gar einen ganzen Jahrgang, trugen wir die Neuerwerbung unruhig wie ein Haus Schminke und sogar noch 1943 ein Landhaus Alvar Aaltos zwischen die
Polarfuchs seine seltene Beute zurück in unser Büro und blätterten ... und vergaßen die Eichentruhen und Zirbelkiefer-Stuben zu schmuggeln, bewunderten die Hefte aus den
Arbeit und die Zeit und das Wetter ... und wir staunten, jubelten, begrüßten, fürchteten, Wiederaufbaujahren, die schnell alle Nierentisch-Gemütlichkeit gegen den International
bewunderten und begrüßten. Staunten über das florale Gewucher des Jugendstils in den Style tauschten und sich binnen weniger Jahre mit brillanten Fotostrecken zu den Bauten
Innen-Dekorations-Ausgaben um 1900, in denen sogar Henry van der Velde höchstselbst und Möbelentwürfen Richard Neutras, Arne Jacobsens, Egon Eiermanns, Eero Saarinens
ein Jahr lang die Geschicke der Zeitschrift bestimmte, jubelten über die exstatischen und vieler begabter Zeitgenossen auf die gestalterische Höhe der Zeit katapultierten. Und
Entwurfs-Individualismen der Hefte aus den frühen 1920er-Jahren mit ihren zickzackig- staunten schließlich wieder über die Hefte der 1970er- und frühen 1980er-Jahre, als der
expressio-nistischen Rauchsalons, Musikzimmern, Ankleide zim mern, Wintergärten, Tee- Inhalt sehr textlastig, die Fotos dafür Pop-Art-bunt wurden, als das Space Age vom Layout
Pavillons, Bars und Kabaretts, Blumentischchen und Likör-Schränkchen mit geschliffe- bis zur Schrifttype das Heft-Design bestimmte, auf dem Cover erstmals der Titel „AIT“
nem Glas und elfenbeinernen Intarsientüren, begrüßten die Entdeckung der kühlen prangte und sogar das Firmen-Hochhaus des herausgebenden Verlages augenscheinlich
Neuen Sachlichkeit nach dem Paukenschlag der Stuttgarter Weissenhofsiedlung in den einem Raketen-Modul nachgebildet wurde. Rund und weiß, geradezu stählern.
Heften der späten 1920er-Jahre, in denen Walter Gropius über den „Maschinengeist“ Wir atmeten aus. Wir legten die Hefte beiseite. Wir waren voll. Vollgesogen. Mit Archi -
schreiben und Le Corbusier gleich die grundsätzliche Frage „Wo beginnt die Architektur?“ tek tur, Design, Gestaltung, Grafik, Fotokunst, mit 500 Varianten einen Stuhl zu entwer-
stellen durfte, liebten die „Innen-Dekoration“ der frühen 1930er-Jahre, ihre Stahlrohr- fen, 1.000 Grundrissen, Ansichten, Schnittzeichnungen, mit Teppichmustern,
Eleganz und Ozeandampfer-Grandezza, fürchteten die aus den spä teren 1930er- und Reformkleidern, String-Regalen, Werbungen, Erklärungen, Texten, Farben, Formen,
1940er-Jahren mit ihren bajuwarischen Bauernmöbeln, Kratzputz-Häus chen und Lampenentwürfen, Lebens entwürfen, Weltentwürfen. Ein Rausch. Über 30 Jahresbände
der „Innen-Dekora tion“, „Architektur und Wohnform“, „Architektur und Wohnwelt“ und
der frühen Ausga ben der AIT füllten inzwischen unsere Regale. Jetzt musste das Aufge -
so gene heraus, musste verwandelt, neu montiert, zu etwas Eigenem werden: Wir
Filmstill: Gefängnishof, aus: „Für den unbekannten Hund“, 2007
schrieben ein Dreh buch, wir entwickelten unseren nächsten Kinofilm: Ein Jugenddrama.
Die Coming-of- Age Ge schichte eines Betonbauergesellen, der durch eine Gewalttat
Schuld auf sich lädt, einer Gruppe Wander gesellen begegnet und in dieser Gruppe welt -
offener, junger Menschen seine Schuld begreift und von da an nach einem Weg der Til -
gung, der Abbitte, der Wieder gutmachung sucht. Die Geschichte spielt im Hier und Jetzt.
Wir hätten der Aus stattung also einen realistischen Touch geben können. Mit beliebigen
Räumen, ungestylten Sets. Und einer Kamera, die einfach „draufhält“, ganz gleich, ob
da ein Lichtschalter, ein Kabel oder eine Reklametafel ins Bild ragt. Aber wir hatten un -
sere 30 Jahrgangsbände der AIT und ihrer Vorgänger im Kopf. Und die hatten an uns
Filme macher eine Botschaft: Dass ein remarkabler Ort, ein kraftvoller Raum, eine
geglückte Filmarchitektur erschaffen werden muss, mit nur wenigen Materialien, weni-
gen Farben, klar gesetztem Licht und sicheren, sich ihres Effekts bewussten Proportionen.
Und wir ahnten, wo wir die Ideen für solche Film-Orte finden würden: Eine Gefäng nis -
szene sollte den Film eröffnen, aber über den Look der Haftanstalt wurden wir uns nicht
einig. Wilhelminisch, historistisch oder wie im Stummfilm, mit steilen Gitterschatten auf
grau geschlämmten Back stein wänden? Wir fuhren von JVA zu JVA, aber die realen
Knäste sahen mehr wie Lagerhallen mittel ständi scher Unternehmen aus. Ein Blick in die
„Architektur und Wohnwelt“ Jahr gang 1977 klär te. Die Abbildung der Eingangshalle im
damals neuen Rathaus der münsterländischen Kleinstadt Greven zeigte uns einen Knast,
wie wir ihn so radikal, so inhuman in der Rea lität nicht finden konnten. Tonnenschwere
Unterzüge, Beton brut, Raum ohne Maßstab. In einer Autobahnunterführung ließen wir
den „Genius loci“ des Grevener Rathauses dann atmosphärisch wiedererstehen.
Einige Drehbuchseiten weiter verlangte die Filmhandlung das Innenleben der Villa eines
Reeders. Die Szenen im hanseatischen Anwesen waren auf Kontrast angelegt: Außen
solide Bürgerlichkeit, innen die dekadente Spielwiese einer lebenslustigen „Bourgeoisie“
064 • AIT 7/8.2017