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                                                                         Christin Noack, KoSP in Berlin
           Foto: Laura Schleicher                                        1989 geboren 2010–2015 Studium Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin, Master 2016 Projektleitung für ein


                                                                         Städtebaufördergebiet in Berlin-Mitte 2018 Projektleitung in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen
                                                                         seit 2020 Gesellschafterin im Koordinationsbüro für Stadtentwicklung und Projektmanagement KoSP GmbH, Berlin


           Gendergerechte Stadtplanung

           Stadtplanung war und ist immer  noch eine Männerdomäne. Aus   Fahrrad oder zu Fuß erreichbar sind. Auch die neue Leipzig-Charta (2020) als rahmen-
           weiblicher Perspektive zeigt der öffentliche Raum nach wie vor viele   gebendes Grundsatzdokument legt Prinzipien für eine integrierte, gemeinwohlorientierte
           Missstände auf. Wir fragen Christin Noack, Stadt- und Regionalplane-  und nachhaltige Stadtentwicklung fest. Darunter fällt der Aspekt der „gerechten Stadt“. In
           rin sowie Gesellschafterin im Berliner Koordinationsbüro für Stadt-  dieser liegt der Fokus auf Chancengleichheit, Zugang zu sozialer Infrastruktur und zu sozi-
           entwicklung und Projektmanagement, der KoSP GmbH, wo es hakt.   aler Teilhabe für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Status, Alter oder Herkunft.
           Denn nicht nur Frauen, so Noack, sondern auch FLINTA – Kinder, ältere,   Durch eine Stadt mit kurzen Wegen ist die gerechte Stadt für alle Menschen schon viel
           bewegungseingeschränkte oder behinderte Menschen – sind in unse-  besser gegeben. Die gendergerechte Stadtentwicklung steht nicht in Konkurrenz zu ande-
           ren Städten benachteiligt und besonderen Gefahren ausgesetzt.  ren Themen der Stadtentwicklung, ist also für uns Planende kein zusätzlicher Aufwand.

           Frau Noack, die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum ist längst nicht überall   Welche von Ihnen begleiteten, feministischen beziehungsweise gendergerechten Pro-
           gegeben. Wie kann eine gendergerechte Stadtplanung Ängste reduzieren?   jekte sind in jüngster Zeit entstanden oder in Bearbeitung?
           Frauen sind im öffentlichen Raum insbesondere sexueller Belästigung, sexuellen Über-  Unser Büro arbeitet in der gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung, vor allem in der
           griffen und körperlicher Gewalt ausgesetzt. So meiden 58 Prozent der Frauen (nachts)   Steuerung und Begleitung von Projekten und Prozessen im Rahmen der Städtebauför-
           bestimmte Orte aus Angst vor Übergriffen. Die Stadtplanung hat einen erheblichen   derung. Wir begleiten integrierte Planungsprozesse in einzelnen Stadtteilen über einen
           Einfluss auf eben jenes Sicherheitsempfinden und kann zu belebteren und beliebteren   Zeitraum von 15 Jahren und bauen hier gemeinsam mit den BewohnerInnen partizipative
           öffentlichen Räumen beitragen. Insbesondere sollten freie Sichtachsen geschaffen wer-  Strukturen auf. Dazu gehören Stadtteilläden als dauerhafte Anlaufstellen. Wir initiieren
           den. Sonst eher dunkle Orte wie Unterfrührungen, Treppen oder Parkhäuser müssen hell   Gremien, in denen die Bewohnerschaft aktiv mit plant. Im Bereich der Projektentwicklung
           und freundlich gestaltet sein. Orte, welche je nach Tageszeit unterschiedlich frequentiert   lassen sich viele weitere Beispiele finden, wie der Bau von sogenannten „Parklets“, die
           sind, müssen einsehbar und multikodiert sein, das heißt, mehrere Nutzungen ermögli-  wir im vergangenen Jahr in Berlin-Moabit initiiert haben. Im Maßstab der Stadtentwick-
           chen und so viele verschiedene Gruppen ansprechen. Im öffentlichen Raum sollten Ange-  lung ist dies ein kleines Projekt, das aber große Wirkung zeigt, denn es verschwinden
           bote geschaffen werden, die eine soziale Kontrolle bieten, durch Angebote zum Verweilen,   Parkplätze zugunsten von Sitzgelegenheiten, die älteren und ganz jungen Menschen oder
           Spielen oder Sporttreiben. Alle Wege müssen zwingend barrierefrei sein, um Umwege   stillenden Müttern zugutekommen. Auch großmaßstäbliche Projekte, wie die Neu- und
           oder das Ausweichen auf die Straße zu vermeiden. Wir leben noch heute mit dem Ideal   Umgestaltung von Spielplätzen (gerade in Planung: die Kolberger Straße) oder Parks (Foto
           der autogerechten Stadt. Viele Orte sind so geplant, dass das Auto Vorrang hat.  unten: Kleiner Tiergarten) gehören dazu. Die Frage der feministischen Stadtentwicklung
                                                                         beginnt schon beim richtigen Spielangebot. Auch hier unterscheiden sich die Bedürfnisse
           Frauen bewegen sich anders in Städten als Männer. Worin liegt der Unterschied?  von Mädchen und Jungen spätestens ab dem Teenageralter. Bolzplätze und Skate-Parks
           Männer legen in der Regel geradlinige Zwei-Punkt-Wege zurück, beispielsweise mit dem   sind wunderbar, sollten aber ergänzt werden um freie Flächen, die Verweilen, freies Spiel
           Auto von der Wohnung zur Arbeit und zurück. Frauen sind viel netzartiger unterwegs.   und Austausch – zum Beispiel in Form von großen Schaukeln – ermöglichen.
           So werden pflegebedürftige Familienmitglieder zum Arzt begleitet, die Kinder zur Schule
           oder Kita gebracht, Einkäufe erledigt, und es gibt den Weg zur Arbeit. Dies resultiert dar-
           aus, dass noch immer mehr Frauen die Care-Arbeit innerhalb von Familien übernehmen.
           Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass Frauen häufiger nicht alleine in der Stadt unterwegs
           sind, sondern weitere vulnerable Gruppen begleiten: pflegebedürftige Menschen, Kinder,
           ältere oder mobilitätseingeschränkte Menschen. Die Wahl der Verkehrsmittel unterschei-
           det sich dabei deutlich. Zwei Drittel der Frauen bewegen sich zu Fuß, mit dem Rad oder
           dem ÖPNV fort. Das ist zudem viel nachhaltiger. Männer hingegen präferieren das Auto.
           Zwei Drittel der privaten PKWs sind auf Männer angemeldet.
           Können Mixed-Use-Gebiete, in denen Wohnen, Arbeiten und Freizeit näher beieinan-
           der liegen, die Lebensqualität von Frauen in Städten verbessern?
           Auf jeden Fall. Die feministische Stadtplanung kommt allen zugute, und im Grunde repe-
           tiert sie nur die ohnehin schon in der europäischen Stadtplanung geltenden Maximen. Die                                   Foto: Kleiner Tiergarten Ottopark, KoSP
           „Stadt der kurzen Wege“ oder auch das Prinzip der „15-Minuten-Stadt“ sind Modelle, die
           diese Frage direkt beantworten. Ziel ist, dass alle alltäglichen Distanzen zwischen Wohn-
           und Arbeitsort, Nahversorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen bequem mit dem

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