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Nicht  nur  körperlich  beeinträchtigte  Men-
                  schen,  sei  es  aufgrund  einer  Behinderung,
                  einer Krankheit oder des Alters, werden bei mit
                  dem Begriff Inklusion berücksichtigt, sondern
                  auch Menschen, deren Mobilität aus anderen
                  Gründen  eingeschränkt  wird,  zum  Beispiel
                  Väter mit Kinderwägen. Seit 1994 ist dies im
                  Deutschen Grundgesetz verankert (Artikel 3).
                  2002 wurde mit dem Behindertengleichstel-
                  lungsgesetz (BGG, Novelle 2016) und 2006 mit
                  dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG)
                  dafür gesorgt, dass Inklusion in unserer Gesell-
                  schaft weiter Einzug halten kann. Artikel 9 der   Stadtbibliothek Sterkrade von UKW Innenarchitekten, eine „Bibliothek der Generationen“. Die gesamte Fläche entspricht den
                                                         Erfordernissen der Barrierefreiheit. Foto: Jens Kirchner, Düsseldorf.
                  UN-Behindertenrechtskonvention ist seit 2009
                  in Deutschland geltendes Recht.        cher Anlagen, die zu Nutzungserleichterungen   Wenn ein Um- beziehungsweise Ausbau nötig
                                                         führen soll. Die Norm besteht aus drei Teilen:   wird, sollten Planer*innen hinzugezogen wer-
                  Gesellschaftliche Teilhabe für alle    Teil 1 „Öffentlich zugängliche Gebäude“, Teil   den. Individuelle Analyse und Beratung durch
                  Barrierefreiheit ist zwar nur ein Teil von Inklusion,   2 „Wohnungen“ und Teil 3 „Öffentlicher Ver-  Innenarchitekt*innen sind die Grundlage für
                  aber uns Planer*innen kommt damit eine be-   kehrs- und Freiraum“. Die Norm berücksichtigt   eine  bedarfsgerechte  und  nutzerorientierte
                  sondere Verantwortung zu, um zu gewährleis-   die Bedürfnisse von Menschen mit Seh- oder   Konzeption der neuen Wohnsituation. Dabei
                  ten, dass Barrierefreiheit Teil der gebauten Um-   Hörbehinderung, motorischen Einschränkun-  geht es in den meisten Fällen um die Beseiti-
                  welt ist. Teil des Diskurses ist auch immer wie-  gen, die großwüchsig oder kleinwüchsig sind,   gung von Stufen und Schwellen, die Schaffung
                  der der Begriff „Barrierearmut“. Damit sollte   mit kognitiven Einschränkungen, die älter sind,   ausreichend breiter Türen und Flure, oder das
                  jedoch vorsichtig umgegangen werden. Wäh-  mit  Kinderwagen  oder  Gepäck,  aber  auch   Anbringen von technischen Hilfen wie Halte-
                  rend Barrierefreiheit ein gesetzlich definierter   Kinder. Die Einführung der Norm oblag jedem   griffen und Automatisierungen. Bestandsum-
                  Begriff und durch Standards messbar ist, lässt   Bundesland: „Die Haupt-Normen DIN 18040-1   bau  entspricht  genau  dem  Handlungsfeld,
                  „Barrierearmut“ Raum für Interpretation.  und -2 sind in allen Bundesländern in wesentli-  welches Innenarchitekt*innen aufgrund ihrer
                                                         chen Teilen eingeführt. Darüber hinaus gibt es   Ausbildung und ihrer Berufspraxis seit jeher
                  § 4 des BGG definiert Barrierefreiheit: „Bar-  durchaus eine Vielzahl weiterer Verordnungen   ausfüllen. Sie haben die Befähigung, die rich-
                  rierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen,   und  Bestimmungen,  die  zu  beachten  sind,“   tige Balance zwischen funktionalen Anforde-
                  Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegen-  sagt Gerstner.                   rungen und Ästhetik zu finden. Aber auch bei
                  stände, Systeme der Informationsverarbeitung,                                Neubauten gilt es gut zu beraten. Wer jung
                  akustische  und  visuelle  Informationsquellen   Wie setze ich als Planerin oder Planer denn   baut, denkt oft nicht an das Wohnen am Alter,
                  und  Kommunikationseinrichtungen  sowie   nun  Barrierefreiheit  in  meinen  Projekten   oder  an  lebensverändernde  Ereignisse  wie
                  andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für   um? Gerstner erklärt: „Die Kolleginnen und   Unfälle oder Erkrankungen, die das Wohnei-
                  Menschen mit Behinderungen in der allgemein   Kollegen sollten sich bereits zu Beginn einer   gentum plötzlich zum Wohnhindernis werden
                  üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis   Aufgabe  informieren,  in  welchem  Umfang   lassen. Im besten Falle berücksichtigen Pla-
                  und  grundsätzlich  ohne  fremde  Hilfe  auf-  Barrierefreiheit  gewünscht,  gefordert  oder   ner*innen Barrierefreiheit nicht nur aufgrund
                  findbar,  zugänglich  und  nutzbar  sind.“  Die   einfach nötig ist und was das für das Bauvor-  gesetzlicher Vorgaben.  Großzügig  geschnit-
                  Umsetzung dessen ist aufgrund der föderalen   haben in der Entwicklung bedeutet. Das mag   tene Räume, breite Flure oder bodengleiche
                  Struktur in Deutschland an die jeweiligen Lan-  für manche befremdlich sein, schützt aber vor   Duschen sind auch für immer mehr, körperlich
                  desbauordnungen gekoppelt. „Die Bauordnun-  Fehlern, die später nicht mehr so leicht aus-  nicht eingeschränkte Nutzer*innen begehrter
                  gen der Länder setzen die Anforderungen an   gebessert werden können. Wir müssen unsere   Wohnraum.
                  bauliche Barrierefreiheit fest, also bei welchen   Auftraggeber dahingehend qualifiziert bera-
                  Bauvorhaben und in welchem Umfang Bar-  ten. Barrierefreiheit benötigt beispielsweise   Barrierefreiheit beim Planen und Bauen: Das
                  rierefreiheit hergestellt werden muss. In der   in  manchen  Bereichen  für  die  Bewegungs-  gesamte Interview mit Claudia Gerstner lesen
                  Regel betrifft dies Vorhaben, für die ein bau-  flächen einfach mehr Platz. Allerdings muss   Sie unter:
                  ordnungsrechtliches Verfahren notwendig ist.   man sich immer vor Augen halten, dass nicht
                  Die Anforderungen gelten also nicht aus sich   nur  Rollstuhlfahrer  Barrierefreiheit  benöti-
                  heraus,“ erklärt bdia Innenarchitektin Claudia   gen, sondern viele Menschen - mit oder ohne
                  Gerstner, die für die Bayerische Architekten-  Einschränkungen  -  auch. Wir  befinden  uns
                  kammer als freie Beraterin in der Beratungs-  sozusagen in einem Prozess zu einer immer
                  stelle Barrierefreiheit tätig ist.     besseren, barrierefreien Umwelt.“
                  In vielen Köpfen beherrscht immer noch das   Wir werden immer älter
                  Bild von der „Rolli-Rampe“ das Denken, wenn   Fast 30 Prozent der deutschen Bevölkerung
                  von  Barrierefreiheit  die  Rede  ist. Von  dieser   sind  60  Jahre  oder  älter.   Der  demografi-  Am 18. Oktober 2024 veranstalten wir zusam-
                                                                              1
                  engstirnigen Denkweise müssen wir uns lösen.   sche  Wandel  hat  nicht  zuletzt  auch  große   men mit der GGT Deutsche Gesellschaft für
                  Barrierefrei zu bauen heißt, für alle zu bauen,   Auswirkungen  auf  die  Baubranche.  Immer   Gerontotechnik ein Tagesseminar zum Thema
                  auch für Menschen mit motorischen, visuel-  größer wird die Zahl der alten Menschen, die   „Silver Society” – Wir gestalten die Zukunft.
                  len, auditiven sowie kognitiven Einschränkun-  trotz zunehmender körperlicher Beeinträch-  Impulse für die Planung von generationsüber-
                  gen. Bestandteile der Planung sollten bauliche   tigungen  weiterhin  selbstständig  bleiben   greifendem Komfort im  Wachstumsmarkt
                  Maßnahmen, wie  auch  die Teilhabe  ermög-  und in ihrem bisherigen Wohnraum wohnen   50plus. Eingeladen sind alle bdia Mitglieder
                  lichende Hilfsmittel sein. Damit eröffnen wir   möchten.  Dahinter  stecken  psychologische   sowie Innenarchitekt*innen bundesweit. Mehr
                  vielen Menschen ein selbstbestimmtes Leben.   und wirtschaftliche Faktoren. Nicht zuletzt   dazu im bdia Kalender auf der nächsten Seite.
                                                         verspüren diese Menschen den Wunsch, ihre
                  Normenwerk                             gewohnte Lebensqualität so lange wie mög-
                  Die DIN 18040 ist in Deutschland die Grund-  lich aufrecht zu erhalten. Oftmals ist dieser
                  norm für das barrierefreie Bauen und Planen.   Wohnraum  jedoch  nicht  so  gestaltet,  dass   1  Vgl. Statista, 2023, abrufbar unter: https://de.statista.com/
                                                                                               statistik/daten/studie/1365/umfrage/bevoelkerung-deutsch-
                  Ziel dieser Norm ist die Barrierefreiheit bauli-  dieser Wunsch erfüllt werden kann.   lands-nach-altersgruppen/

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