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REDINGS ESSAY
DER ZWERG
UND DER PINGUIN
Ein Essay von Benjamin Reding
L opachin: „Ich habe eine angenehme Nachricht für Sie: Sie wissen, dass Ihr Kirsch- Brause, wollich?!“ „Nein“, sagte mein Vater, aber sie war schon hinter dem Tresen und
kam mit einer Fanta zurück. „Nein, mein Sohn leidet an einer Stoffwechselerkrankung.“
garten unter den Hammer kommt. Am 22. August ist der Termin. Machen Sie sich
aber keine Sorgen darum, schlafen Sie ruhig und unbekümmert – es gibt einen Ausweg. Vater erklärte es umständlich, die Wirtin schien es nicht wirklich zu begreifen. „Für ihn
Ihr Gut liegt nur zwanzig Werst von der Stadt entfernt, und es hat direkte Bahnverbin- nur ein Wasser.“ Sie überlegte, nahm dann die Fanta vom Tisch. „Selters oder Kran?“
dung: wenn der Kirschgarten parzelliert und mit Sommerhäuschen bebaut wird, können „Selters.“ Mit Bier und Wasser kam sie zurück, ihre Schuhe klackerten auf den glattge-
Sie sich ein Jahreseinkommen von mindestens 25.000 Rubeln sichern.“ Gajew: „Erlau- laufenen Steinfußboden. „Dreifuffzig.“ Mein Vater kramte das Geld hervor, entzündete
ben Sie mal, das ist doch der blanke Unsinn!“ (Anton Tschechow, „Der Kirschgarten“). seine Pfeife, trank schweigend sein Bier. Die Wirtin blieb beim Tisch, betrachtete mich,
In dem Sommer wurde ich krank. Es war ein sehr heißer Sommer, und ich wurde sehr lange, meinen dünnen Körper, mein erschöpftes, käsiges Gesicht. Plötzlich wurde sie
krank. Mit einem Taxi fuhr man mich in das große Kinderkrankenhaus. Ein strenger lebhaft. „Na, willze mal unseren Pinguin sehen?“ Pinguin? Ich nickte eifrig! „Dann komm
Klotz, aber natürlich auf dem neuesten medizinischen Stand. Sie hielten die Krankheit mit!“ Sie nahm mich an der Hand, führte mich zurück in die Halle und dann durch eine
erst für ansteckend, also bekam ich ein Einzelzimmer, sehr klein, mit einem noch klei- kleine Tür. „Dat is eigentlich schon allet außer Betrieb.“ Sie schob mich vor sich hinaus,
neren Fenster. Mit den anderen Kindern, die den Sommer auch – aus vielen Gründen, ins Helle, in einen Garten. „Dat is unsa Biergarten! Der is berühmt!“ Zwischen dichten,
von Masern bis zum gebrochenen Arm – im Krankenhaus verbringen mussten, durfte ich blühenden Fliederbüschen standen Klapptische und Stühle, uralt schienen sie mir, aus
deshalb nicht spielen. So schaute ich ihnen vom Fenster aus zu und färbte Tiere in mei- Eisen und grün gestrichenem Holz. Das Licht fiel in sich sanft bewegenden Flecken durch
nem Malbuch. Nach zwei Monaten holte mein Vater mich ab. Der dynamische, freund- das dichte Blätterdach der Kastanienbäume. Hie und da standen noch Biergläser auf den
liche, ja fast fröhliche Chefarzt erklärte ihm, dass ich unheilbar krank sei, aber er lächelte Tischen, bemoost, als hätte vor langer Zeit eine Tischgesellschaft mitten aus fröhlicher
und nannte es „bedingt gesund“. Ich müsse nur eine strenge Diät einhalten, jedes Jahr Runde überstürzt aufbrechen müssen. Da entdeckte ich ihn, er war nicht allein. Auf
„zur Kontrolle“ zurück ins Krankenhaus kommen und täglich zwei Injektionen erhalten, einem künstlichen Felsplateau stand er, unter ihm ein gemauerter Teich mit einem win-
ab jetzt und für immer. Dann schüttelte er meinem Vater energisch die Hand, wie ein zigen, sprudelnden Wasserfall, überragt von einer wuchtigen, das ganze, kleine Ensem-
Kaufmann nach erfolgreichem Geschäftsabschluss. Wir fuhren ble wie ein Haus überdachenden, alles beschützenden Trauer-
nicht den üblichen Weg, nicht direkt nach Hause. „Ich habe weide: der Pinguin. Er war aus Plastik und reckte sich, den
eine Überraschung“, sagte mein Vater. Das Taxi brachte uns Kopf aufmerksam erhoben, auf einer Eisscholle, ebenfalls aus
weit in den Süden der Stadt, zu den Bauernhöfen, den alten Plastik. „Oh!“ sagte ich. „Dat hasse nich erwartet, sowat Schö-
Kotten aus Fachwerk und Bruchsteinen, die zwischen Ahorn- net, woll?!“ Ich nickte. „Und sein Kumpel passt auf ihn auf!“
alleen und hohen Hecken in der Landschaft ruhten – krumm- Die rundliche Dame lächelte. Tatsächlich, hinter dem Pinguin,
buckelig, als seien sie aus ihr herausgewachsen. „Dahinter ist ihn freundlich anblickend, verbarg sich im Schatten der Weide
es.“ Vater zeigte auf eine Bruchsteinmauer und hob mich hoch: noch eine zweite Figur: ein Zwerg mit einem grob geschuppten
Einen überwucherten Garten sah ich, voller Brennnesseln, Fisch in den Armen, auch aus Plastik. Der Zwerg und der Pin-
Efeu, Schatten spendender Kastanien und einer überdachten, guin waren sicher gute Freunde. „Der beschützt ihn, ja? Immer,
halb eingestürzten Kegelbahn. „Das ist unser Grundstück. Hier egal wann..., egal bei was...?“ Ich schaute der Wirtin hoff-
werden wir bald bauen!“ Dann nahm er mich an der Hand, nungsvoll in die Augen, in ihr rundliches, rötliches Gesicht. Sie
und wir gingen schweigend an der alten Bruchsteinmauer ent- Foto: Benjamin Reding überlegte, etwas länger. „Ja... dat will ich doch wohl mei-
lang, die das Grundstück wie in einer schützenden Umarmung nen...“, dann betrachtete sie mich wieder so nachdenklich und
barg. Und plötzlich, viel zu groß, zu stattlich, zu dramatisch zwi- nahm mich bei der Hand „Du muss öfter kommen gez!“„Das
schen den geduckten Bauernkaten und ihren Kuhweiden erhob sich ein mächtiger Sand- wird alles abgerissen!“ Der Herr mit Hut und Hund kehrte vom Spaziergang zurück.
steinbau, streng symmetrisch, mit breiter Treppe, Pilaster-umrahmtem Eingangsportal „Dabei ist der Bau vielleicht sogar von Schinkel.“ Er warf seinem Hund ein Stöckchen
und zwei Ahornbäumen links und rechts davon. „Das Karbon ist Schuld und die Preu- vor. „War mal die preußische Poststation, aber dann kam die Eisenbahn, da war’s mit
ßen. Ohne die Sumpfwälder des Karbons und den preußischen Ordnungssinn würde es den Pferdekutschen vorbei.“ Der Hund hechelte los. „Die Kohle des Karbons hat das
das Gasthaus nicht geben!“ Ein Herr mit Hornbrille, Hut und Hund grüßte herüber. „Ja, Lokal gerettet, die Bergleute und ihr Feierabendbier.“ Schnaubend kam der Hund zu-
gehen Sie nur hinein! Es war mal eine Attraktion, es gab sogar Postkarten davon!“ Er lä- rück, im Maul das eingesabberte Stöckchen. „Aber die Zeche ist schon seit zehn Jahren
chelte, nein, eigentlich war es mehr ein Grinsen, ein bitteres. Dann kümmerte sich der dicht, jetzt wird das Grundstück aufgeteilt.“ Er hob den Hut zum höflichen Abschieds-
Herr um seinen Hund, und wir gingen die Sandsteinstufen hinauf und durch das eben- gruß. „Es gibt sogar einen unterirdischen Tunnel, der das Haus mit meinem Bauernhof
mäßige, sehr altgriechisch-klassizistische Portal hinein. „Wat willze denn, Du Dötzken?“ gegenüber verbindet. Kaum zu glauben, was?“ „Dann werden wir ja Nachbarn!“ Mein
Ohne eine Antwort abzuwarten wandte sich die rundliche Dame zu meinem Vater: „Wir Vater sagte es nicht ohne Stolz. „Aha...“ antwortete der Herr, der jetzt seltsam gealtert
ham noch dicht. Auf erst ab Mittach, dann gibbet hier auch wat zu futtern.“ Die massige und gekrümmt aussah. „... dann viel Glück!“ Und zu seinem Hund: „Zerberus komm!“
Wirtin stand in der Eingangshalle, ein breites Holztreppenhaus hinter, rot-weißer Stein- Am Ende des Sommers wurde das Lokal geschlossen, der Biergarten zerteilt, die alten
fliesenboden unter und etwas Verschnörkeltes aus Holz und Glas neben ihr – ein biss- Kastanien gefällt, die Bierreklamen gestohlen und die neuen Häuser, auch das meines
chen sah es wie ein alter Postschalter aus. „Na so’n Bierken könnse schon kriegen.“ Sie Vaters, gebaut. Nichts blieb. Halt, doch, eines Nachts, kurz bevor das letzte Stück pla-
wischte sich an ihrer Schürze die Hände ab und ging in den Schankraum vor. Die Wände niert werden sollte, kletterte ich über den Bauzaun und entwendete aus dem abgeräum-
gelb von Rauch, das Surren eines Kühlschranks, das Gurgeln eines Siffons, der Geruch ten, verwüsteten Garten den Zwerg und seinen Freund, den Pinguin. Damit sie mich er-
von feuchtem Keller, abgestandenem Rauch, verschüttetem Bier. „Und du kriss ‘ne innern können, auch an den schönsten Biergarten, in dem ich je war.
052 • AIT 6.2022