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REDINGS ESSAY
                                                DAS HALBE




                                  STAATSBANKETT





                                                            Ein Essay von Benjamin Reding





            J  a, wie war das noch? Man hatte Hunger, Durst oder einfach Lust aufs Ausgehen, Men-  Leben  nach  dem  dunstig-rauchigen  Altherren-Essen  mit  Klößen  und  Gurkensalat,
              schen-Treffen, Lachen, Reden, Flirten, ja auch Rauchen, sicher aufs Genießen. Man zog
                                                                          Schweinsbraten und Schnaps aus geschliffenen Gläsern erfuhr ich: Sie alle hatten, als
            sich „was Nettes“ an, ging los, nach draußen, oft in die Gassen eines „Kneipenviertels“,  junge Menschen, im Untergrund, unter Einsatz ihres Lebens gegen die Nazis gekämpft.
            schaute, wo „viel los“ war (je mehr Menschen, umso besser sogar), setzte sich, beachtete  Und es überlebt. Weißt Du noch? Das Dinner mit Robert Redford, hoch in den Bergen
            weder Mindestabstände, noch dachte man an FFP2-Masken, bestellte en face beim Re-  Utahs? Ein Empfang in seiner privaten Ski-Lodge, das Esszimmer so groß wie eine Schwei-
            staurant-Chef, Barkeeper, Kneipenwirt, ja, redete plötzlich mit der sympathischen Runde  zer Hotelhalle. Wir Gäste wurden schriftlich gebeten, „Mountain Look“ zu tragen. Was
            am Nachbartisch, prostete herüber, setzte sich sogar dazu, sprach mit den neuen Bekann-  mochte das sein? Mountain Look ...? Ich kaufte einen Wollpullover mit Elch-Muster. Der
            ten, scherzte, probierte Essen aus fremden Tellern, trank aus denselben (!) Gläsern, bot  Star hielt eine launige Ansprache vor einem monumentalen, an das Filmset von „Citizen
            sich das Du an, umarmte einander und so weiter und so fort ... Chefredakteurin Petra Ste-  Kane“ gemahnenden, lichterloh brennenden Kamin. Wie hält er die Hitze aus? Selbst an
            phan hat mich, humorvoll, wie es ihre Art ist, gewarnt: „Das Thema der nächsten AIT-Aus-  unserem Tisch (in sicherer Entfernung) ließ die Hitze den Gästen den Schweiß in breiten
            gabe Hotel-Bar-Restaurant ... kommt einem angesichts der momentanen Umstände fast  Strömen in ihre Elch-, Hirsch-, Reh-Motiv-Pullover rinnen. Gleich wird der Robert in Flam-
            skurril vor ...“.  Ja, es scheint länger als ein Jahr her, fast, wie aus dem vergangenen Jahr-  men stehen, dachte ich.  Aber Hollywood-Schauspieler halten was aus. Er lächelte lässig,
            tausend ... Weißt Du noch, damals, als man einfach so ins Restaurant ging, ein Hotelzim-  begrüßte die Gäste, auch mich, fragte, woher ich stamme: „Germany“. Er nickte. „Hum-
            mer nahm, in einer Kneipe versackte? Ohne Test, ohne Impfung, Fallzahlen, Grenzwerte,  mus-Hummus?!“ Was hatte er gesagt? Was wollte er hören? Dann nochmal, nun klang es
            Quoten, Indizes, Expositionsrisiko, ohne Angst, ohne                                 wie: „Hommo-Hommo?!“ Da löste sich, wie eine La-
            schlechtes Gewissen, ohne Herrn Drosten ... „Weißt                                   wine in den Bergen (um bei den alpinen Sprachbil-
            Du noch ...?“ Ich sagte es zu meinem Bruder, der                                     dern zu bleiben) eine Gedankenkaskade: Seine Frau
            wegen der Covid-Impfung am Telefon saß, einen Ter-                                   stammte, hatte ich irgendwo gelesen, aus Hamburg,
            min erbettelnd. Er hatte es überhört, ich sagte es                                   also war er dort schon zu Besuch und er wird meinen:
            noch einmal, diesmal aber zu mir selbst: Weißt Du                                    „Hummel! Hummel!“ Der Erkennungsgruß der Ham-
            noch? Ich sagte es, um die Hände danach auszustrek-                                  burger! Und ich rief, sehr, sehr laut: „Mors! Mors!“ Da
            ken, wie zu den Flammen eines Lagerfeuers, wohlig                                    lachte  Mr.  Redford,  und  mein  Leben war  gerettet.
            die Wärme im erkaltenden Köper zu spüren. Weißt                                      Weißt Du noch? Das halbe Staatsbankett? Große Er-
            Du noch? Das Festmahl in Beaune, der mittelalterli-                                  wartungen: an Architektur, Essen, Gäste. Einlass nur
            chen Kleinstadt im französischen Burgund? Der Bür-                                   mit Pass und gedruckter Karte. Im Staatsratsgebäude.
            germeister lud zu den „Onzièmes Rencontres Ciné-                                     Einst Reichsbank, jetzt Außenministerium. Und der
            matographiques de Beaune“: Hinfahrt im Sonderzug,                                    Außenminister hatte geladen. Zum Abendessen (Hum-
            ein fabrikneuer TGV, nur für uns 20 Gäste. Am Abend,                                 mer Thermidor) mit den Kulturschaffenden. In einem
            im ehemaligen Armenhaus der Stadt, dem durch                                         der  von  Hans  Kollhoff  entworfenen  Säle.  Spiegel,
            Schenkungen im Laufe vieler Jahrhunderte prächtig                                    Kirschholz, cremefarbenes Kalbsleder. Über allem ein
            gewordenen „Hôtel-Dieu“, dann das Festessen. Ein                                     Hauch von Versailles. Auch die Klimaanlage leistete
            französisches Festessen: Jambon Persillé au Bourgo-  Foto: Benjamin Reding           solide Arbeit, man fror. Das Gespräch mit dem betont
            gne Aligoté, dann Coq au Vin Cuisiné à l´Ancienne,                                   interessiert dreinblickenden Minister kam nur müh-
            dann Tarte Fondante à l´Ananas Rôti oder Lait de Riz                                 sam in Gang, Worüber sollte man reden? Friedensbe-
            Glacé und, natürlich, die Sélection des Fromages                                     mühungen im mittleren Osten? „Failed State“-Tenden-
            Régionaux, dazu einen Beaune Champs Pimonts 1er Cru, 1996, kredenzt in der Kapelle,  zen in Libyen? Das Atomprogramm Nordkoreas? Wer wollte vorpreschen, dem Minister
            unter Rogier van der Weydens Meisterwerk, dem Flügelaltar „Das jüngste Gericht“. Der  schnell ein paar Tipps zum „besseren Regieren“ geben? Vielleicht bemerkte es der Mini-
            thronende Christus, die nackt aus den Gräben Auferstehenden und die Verdammten, mit  ster, vielleicht wollte er einfach nur lustig sein, in einer der Pausen – man hörte das lustlose
            ihren angstverzerrten Gesichtern, nur eine Armlänge entfernt. Die schützenden Panzerglas-  Scharren der Messer und Gabeln im seltsam verkochten, lauwarmen Menü – bemerkte
            scheiben hatten die Stadtoberen für das Festmahl abgebaut. Und ich dachte beim Zer-  er, wir sollten uns über die Temperatur nicht wundern, das Essen für uns Künstler sei tat-
            schneiden meines Coq au Vin: Was, wenn jetzt das Öl in Richtung „Jüngstes Gericht“  sächlich nur übrig geblieben, vom weltpolitisch bedeutenden Bankett mit dem japani-
            spritzt? Aber der Bürgermeister prostete mir gutgelaunt zu und ich trank, zur Beruhigung,  schen Außenminister am Vormittag. Und weißt Du noch? Die Heißhunger-Kartoffel im
            ordentlich vom „1er Cru“ und konnte plötzlich, gewiss auch ein Wunder, leichter franzö-  Wald? Denn mehr muss es nicht sein. Ein Sommertag, eine Lichtung, ein Lagerfeuerchen,
            sisch parlieren als je zuvor. Weißt Du noch? Das Gastmahl bei den alten Männern, die ein  Kartoffeln in Silberfolie. Und richtigen Hunger dazu. Die Gesellen auf der Walz sangen ihre
            Geheimnis verband? Erlebt als Kind, mitgenommen von den Eltern. Ein altersschwaches  Lieder, drehten die silbernen Ovale genüsslich in der Glut. Spontan mitgenommen hatten
            Haus am Stadtrand, ein Nachmittag bei Glühlampenlicht. Lauter schwer bewegliche,  sie uns, auf eine ihrer Tippeltouren. Nun kreiste das Bier und die Füße taten weh und sie
            dünnhäutige alte Herren, die Zigarren pafften und in schlotternden, längst zu weit gewor-  schauten uns zu, wie wir die Kartoffel gierig verschlangen, und freuten sich. Wir alle, uns
            denen Anzügen steckten, aber dann plötzlich beim Essen, Rauchen und reichlichem Trin-  gemeinsam. „Ja, das weiß ich noch ...“, seufzte mein Bruder „... und einen Sommer, mor-
            ken frohgemut, viel jünger, fast ausgelassen agierten. Sie lächelten sich zu, wie ein Augen-  gens kühl und sonnenklar, mittags heiß und schweigend, abends warm und zart, ein Strei-
            zwinkern, rasch ausgetauscht, als hätten sie gemeinsam einst etwas Tollkühnes, Gefähr-  cheln vom Wind, der Geruch von Waldboden, von Lagerfeuer und Kartoffeln aus der
            liches, Verbotenes und dennoch Richtiges getan. Und das hatten sie, denn erst ein halbes  Hand, das kann niemand verbieten. Selbst Corona nicht“, und lief los, Kartoffeln kaufen.

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