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Redings Essay


               EBENE 0












               Ein Essay von Dominik Reding
               M    ontréal ist eine schöne Stadt. Gewesen! Kleine, rote Backsteinhäuser im Colonial  Abends saß General Rickman in der Hotelbar, deren Wände, Boden, Decke und selbst
                                                                             die Tische aus dem gleichen rötlich-braunen, kieselreichen Beton geformt waren, wie
                    Style, enge, verwinkelte Straßen, eine Markthalle mit Petersdom kup pel und ein
               mächtiges Beaux-Arts-Rathaus auf dem höchsten Punkt der Innenstadt, mit freiem Blick  die Eingangshalle, die Fahrstuhlschächte, das Hotelparkhaus und der Swimmingpool
               über den Sankt-Lorenz-Strom. Dann kamen eine Weltausstellung und eine Olympiade  über dem Hotelparkhaus, und trank „Scotch on the rocks“. Nicht genussvoll, wie ein
               und beide  zum falschen  Zeitpunkt. 1967 und 1976. Die Stadtplaner und Architekten  Kenner, nicht eilig, wie ein Trinker, sondern selbstverständlich wie ein Profi. „Domi -
               träumten von der perfekt durchorganisierten Stadt. Fußgänger, Autofahrer, Einkaufen,  nik, look at me! Invite the important people to the screening. The Stars, the directors,
               Wohnen,  Arbeiten,  Vergnügungsviertel  und  Grünflächen  – alles  sauber  durch  breite  the critics, the famous actors! And be there in time!“ – „Yes, Mr. Rickman“, ich nickte.
               Straßen voneinander getrennt. Und übereinandergestapelt. Die neue Stadt würde auf ver-  Und schlich mich aus der Beton-Bar im 23. Stock – gefühlte Ebene +12 – hinaus auf
               schiedenen Ebenen stattfinden: Ebene -10: Parkhaus (auch für Ein-Mann-Hub schrauber  die Straße, Ebene 0 – oder genauer – die Lücke zwischen den Hochstraßen. Nach der
               geeignet); Ebene -2: Einkaufszentrum (mit Spring brun nen); Ebene 0: Alte Stadt (bald  Olympiade  war den Montréalern das Geld ausgegangen. Für Neubauten auf den
               abzureißen); Ebene +2: Wohnen (mit Ein-Mann-Hub schrau ber-Parkplatz): Ebene +5: Bü -  abgeräumten Grund stücken reichte es nicht mehr, nun standen an ihren Rändern die
               ros (vollklimatisiert); Ebene +10: Hotel (mit Swim ming pool auf dem Dach). Alles verbun-  letzten Back steinhäuser beisammen, wie Frierende an einer winterlichen Bushalte -
               den durch Fahrstühle, Roll treppen, Rollbänder, Skywalks, U-Bahn-, Auto- und Fußgänger -  stelle, fahl gelblich beschienen von den Flutlichtern der Hochstraßen. Und dort, ge -
               tunnel. Die Montréaler sagten sich: Genau so machen wir das, und durchschlugen die  nau dort rockte das Leben. Es gab Kneipen, Clubs, Cafés, Tätowier-Studios, Go-go-
               Stadt mit breiten Straßen. Tief darunter legten sie                                     Bars, Tanzschuppen, aber nicht hip und trendy,
               die Einkaufs zentren an, denn die Win ter in Mon -                                      sondern einfach, rau und low class. Vor einem
               tréal sind kalt. Darauf bauten sie Hotels und Kinos                                     abgeranzten Musik-Club hockte eine Gruppe
               und Theater in einem Stil, der nicht ganz zufällig                                      bettelnder  Trainhopper, die selbst dort nicht
               Brutalismus genannt wird. Und für all das nah-                                          mehr  hineingelassen  wurden. Trainhop per, so
               men sie denselben Beton, rötlich-braun, mit viel                                        nen nen sie in Kanada junge Menschen, die in
               Kies beige mischt, gerne auch mal mit handbrei-                                         Gü terzügen leben.  Zwei Mäd chen, drei Jungs,
               ten, scharf kantigen Ril len ausgeführt. Und nicht                                      drei Hunde. „Pourquoi êtes-vous ici?“, der
               immer war man sich mehr sicher, wo man war.                                             Ältes te von ihnen, vielleicht 25 Jahre, im Gesicht
               Frühstücks raum?  U-Bahneingang? Theater foyer?                                         tätowiert wie ein Maori, schaute mich kritisch
               Nun hatten die Montréaler eine wunderbar mo-                                            an. Ich erklärte. In Englisch. Sie  verstanden
               derne Stadt, nur hatten sie eigentlich keine Stadt                                      nichts. Ich kramte letzte Brocken mei nes Schul -
               mehr. Ihre Res te standen als verlorene Inseln im                                       fran zösisch zusammen: „Festival des films du
               Meer der Hoch straßen, Hochhäuser und Hoch -                                            monde, grand spectacle, dans le cinéma, de -
               bahn tras sen, fahrstuhl schachtweit  entfernt vom                                      main.“ – „You made movie?“, er schaute mich
               durch organi sierten Leben, das sich  zehn Meter                                        ungläubig an. Ich nickte. „Good luck“, sagte er,
               unterhalb oder zehn Meter oberhalb dieser „Alt -                                        grinste und zeigte seine Zahnlücken. „For you,
               stadt“ auf Ebene 0 abspielte.                                                           too“, sagte ich, gab den fünf die fünf Einla dun -
               Das Filmfestival-Hotel lag im  Zentrum. Also in                                         gen und ging  zurück  zum Hotel. Die Filmvor -
               etwas, dessen betonschwere  Zufahrtsstraße mit  Foto: Benjamin Reding                   führung am nächsten Tag war gut be sucht, aber
               dem Metallschild „City-Center“ markiert war. Die                                        Mr. Rickman blickte missmutig. „No stars“, er
               Eingangshalle bestand auch aus jenem rot-bräun-                                         wartete nicht mehr bis  zum Film beginn.
               lichen, kieselsteinreichen Beton und war mit einem Saal für Pressekonferen zen, einer  „Dominik! Look at me! Gimme a call, tomorrow, 6 a.m.! We have to talk about your
               Tiefgarage, einer U-Bahnstation, einem Einkaufszentrum und sogar mit dem Festivalkino  contract.“ Dann stieg er ins Taxi zum Flughafen.
               verbunden, wenn man nur den richtigen, unterirdischen Gang da hin fand. „Dominik,  Am Kino-Eingang gab es Ärger. Mit einem Trainhopper. Den ich kannte. Der, mit der
               look at me! Put the posters on! Everywhere!“ Unser Film hatte seit ein paar Wochen  Maori-Tätowierung. Er war allein, zeigte nervös die Einladung vor. Aber die Security
               einen Agenten. Also jemanden, der sich darum kümmern sollte, dass sich der Film ver -  traute der Sache nicht. Ich erklärte, nahm ihn mit. Er roch nach Hund und Straße und
               kaufte. Unser Agent hieß Charles-Seymour Rickman, oder „C.S. Rickman, President“ wie  Bier, sprach aufgeregt sein kanadisches Slang-Französisch und hockte sich im Kino
               es auf seiner Visitenkarte stand, und kam – natürlich – aus Hollywood. Er hatte ein paar  auf den letzten leeren Platz, ganz hinten. Unser Film lief schon. Deutsch mit engli -
               Jahre bei den US-Marines gedient und ließ sich deshalb auch „General Rickman“ nen-  schen Untertiteln. Er wurde still. Ein Herr im Anzug neben ihm setzte sich weg. Ich
               nen. Er sagte: „Dominik! Put your posters close to the posters of the most famous movie  ging hinaus, trank Cola,  wartete im Foyer, beantwortete Journalistenfragen. Dann
               of the festival!“, oder: „Always be the first at the press meetings!“, oder: „Talk to the L.A.  öffneten sich die Saaltüren wieder, Abspannmusik. Der Trainhopper kam als Erster
               Times, they have the best critics“, oder er sagte einfach: „Look at me! The screening will  aus dem Kino. Er ging auf mich zu und gab mir mit seiner Faust einen leichten Stoß
               be a big success!“ Unser Film war aber kein „big success“, er wollte es gar nicht sein.  vor die Brust. „Merci“, sagte er, „Merci“, dreimal, viermal: „Merci.“ Dann schaut er
               Die Ge schichte eines Bauwagen bewohners, der das Leben liebt, um sein Leben kämpft  hoch, seine Augen waren gerötet, feucht, er hatte geweint. „Au revoir“, er gab mir mit
               und es am Ende verliert, ge filmt in hartkontrastigem Schwarz-Weiss. Er lief in einer  der Faust noch einen leichten Stoß, dann drehte er sich um und stapfte  zu den
               Neben sektion, fünf Eintritts karten gab es von der Festivalleitung geschenkt dazu.   Glastüren. Ebene 0. Die Security ließ ihn in jetzt Ruhe, er ging ja hinaus.



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