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ÖFFENTLICHE BAUTEN • PUBLIC BUILDINGS THEORIE • THEORY




















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            Im Januar bezogen: Holz-Stahlbeton-Hybrid Gymnasium Langenhagen (2) • Langenhagen grammar school (2)  Piktogramm und Nutzungskonzept: Lernhäuser/Cluster • Pictogram and utilization concept




            nentiellen Wissenszuwachses neu justiert werden. Es bedarf der individuellen Förde-  Ein weiteres Schulbeispiel unseres Büros steht in Langenhagen (2). In vor einigen Jahren
            rung und Forderung jedes einzelnen Kindes unter Maßgabe seiner Begabungen, Interes-  noch undenkbaren Dimensionen ist bei Hannover ein gymnasialer Neubau entstanden.
            sen und Fähigkeiten. Unter den aktuellen Bedingungen ist dies nach Aussage von Leh-  Die Idee neuer Bildungsgroßbauten entspringt dem nachvollziehbaren Gedanken, dass
            renden in unserem staatlichen Schulsystem nicht zu leisten. Genau dies sichert bei-  kostenintensive Gemeinschafts-, Fach- und Sporträume einer großen Zahl von Lernenden
            spielsweise das Schulgesetz des Landes NRW allerdings jedem Kind gesetzlich zu (vgl.  zur Verfügung gestellt und durchgehend genutzt werden. Um selbst bei einer so großen
            § 1 Schulgesetz NRW). Eine solche individuelle Förderung ist nach Auffassung führender  Schulgemeinschaft die Ideale des modernen Schulbaus umzusetzen, entwarfen wir ein-
            Wissenschaftler nur in eingliedrigen durchlässigen Schulsystemen möglich. Nur eine in-  zelne Lernhäuser, die den Jahrgangsstufen jeweils geschossweise ein umlaufend belich-
            klusive Schule für alle Jahrgänge und Begabungen, in die sich jeder mit seinen Kompe-  tetes Zuhause bieten und die über einen Boulevard im Erdgeschoss mit allen anderen
            tenzen einbringt, kann Bildungsgerechtigkeit schaffen und das Wir fördern. Lehrende  dort angesiedelten Raumangeboten vernetzt sind. Umlaufende Laubengänge mit großen
            leben diesen Teamgedanken vor und werden zunehmend zu Lernbegleitern, die Impulse  Schiebetüren zu den Lernräumen und direkten Zugängen zu einem Schulhof auf dem
            setzen und individuelle Lernfortschritte fördern. Dies räumlich zu ermöglichen ist das  Dach des Erdgeschosses schaffen Außenraumangebote und verkürzte Wege. Mit einigen
            Ziel der aktuellen Schulbauarchitektur. Seit wenigen Wochen stehen Programme der so-  erstmalig in Deutschland vergebenen Sonderzulassungen entstand ein Holz-Stahlbeton-
            genannten KI (künstliche Intelligenz) zur allgemeinen Verfügung, die uns in unaufhalt-  Hybridbau, der den CO -intensiven Werkstoff Beton nur noch an solchen Bauteilen zum
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            samer Dynamik zeigen, dass uns die Maschinen in puncto Wissen längst überholt haben.  Einsatz kommen lässt, wo dies statisch und/oder brandschutztechnisch erforderlich ist.
            Was wir benötigen, sind Menschen, die jene „4 Ks“ einbringen, welche uns von den Ma-  Nur so konnte in nur viereinhalb Jahren ab Wettbewerbsentscheid ein Schulbau für 1700
            schinen unterscheiden. Die so skizzierte Zukunft ist jetzt. Daher benötigen wir sowohl in  Lernende und 200 Lehrende entstehen. Eine engagierte Schulgemeinschaft hat das Ge-
            der Pädagogik als auch in der Architektur ein sofortiges Umdenken und nicht erst in  bäude seit Januar in Besitz genommen. Einem Wimmelbild gleich wuseln jetzt Lernende
            einer fernen Zukunft. Die Klimakatastrophe zwingt uns dazu, mit den vorhandenen Res-  und Lehrende durch Gassen, Plätze und Räume der „Dorfgemeinschaft“ Schule.
            sourcen sparsam, im besten Fall wieder verwertend und -verwertbar, umzugehen. Die
            Multifunktionalität von Gebäuden und Räumen sowie deren Nutzung durch unterschied-  Pilotprojekt Gemeinschaftsschule Am Hartwege in Weimar
            liche Institutionen ist hierfür ein Ansatz. Zudem ist dies ein impulsgebender Baustein
            von Stadtentwicklung zur Wiederbelebung unserer Stadt- und Quartierszentren.  Inmitten eines Wohnquartiers, auf einem parkähnlichem Schulgrundstück am Stadtrand
                                                                          von Weimar, entsteht mit der Gemeinschaftsschule „Am Hartwege“ (3) eine Schule
            Was kann Architektur leisten? – Beispielhafte Schulprojekte   neuen Typs. Die Planungen hierzu erfolgen in einem für die Architektur neuartigen,
                                                                          durch die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft initiierten und organisierten Open-
            Wir möchten dies an einigen Beispielen unseres Büro zeigen. In einer Art kommunalem  Source-Verfahren mit multipler Autorenschaft. Das Pilotprojekt „Weimar, StadtLand-
            Forschungsprojekt wurde in Köln – initiiert und unterstützt durch das Amt für Schulent-  Schule“ ist eins von vielen Modellvorhaben der Thüringer „Internationalen Bauausstel-
            wicklung und die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft – die Idee einer „Bildungs-  lung“ 2023. Den „Dom-Ino“-Gedanken Le Corbusiers aufnehmend wurde ein universeller
            landschaft“ entwickelt, die sieben Bildungsinstitutionen an einem innerstädtischen  Baukörper aus sechs Raumquadraten und einem Kern entwickelt, der durch nicht-tra-
            Standort zu einer Bildungslandschaft zusammenfasst. Diese soll lebenslanges Lernen  gende Fassaden, Möbeleinbauten und sichtbar belassenen Medienführungen nicht nur
            ebenso abbilden wie das schwellenfreie Zusammenführen von Schulformen und das  den unterschiedlichen Raumanforderungen aus Unterrichts- und Gemeinschaftsberei-
            Öffnen von Bildungsbauten zum Quartier – ohne Zäune und Barrieren. An den Rändern  chen gerecht wird, sondern darüber hinaus zukünftige Umnutzungen bis hin zu Wohn-
            eines bestehenden Parks entstand 2020 mit der Bildungslandschaft Altstadt Nord (1)  und/oder Büronutzungen ermöglicht. Eine zusätzliche Fassadenschicht aus Balkonen
            eine Art Dorfgemeinschaft mit öffentlichen Gassen und der Nutzung des Parks als Schul-  und umlaufenden Erschließungen erweitert jedes Geschoss und jede Nutzung in den Au-
            hof der Realschule. Ein Studienhaus mit Bibliothek sowie ein Mensa- und Atelierge-  ßenraum. Das Leitbild der Werkstatt prägt die Gestaltung der drei Baukörper, bestehend
            bäude bieten Räume der Aneignung und der synergetischen Nutzung aller Schulen und  aus einem Gemeinschaftshaus und zwei Lernhäusern. Die Innenräume initiieren durch
            Quartiersinstitutionen. Clusterartige Raumkonfigurationen bieten Gruppen von Lernen-  die räumliche Struktur und die Ausstattung neue Formen der Vermittlung und der Zu-
            den – einer Jahrgangsstufe, einzelnen Klassen oder Gruppen in Kita und Grundschule –  sammenarbeit auf Augenhöhe. Die Bespielbarkeit der Fassaden und die Parkgestaltung
            ein „Zuhause auf Zeit“ mit Gemeinschafts- und Rückzugsorten, eigenen Küchen und di-  fordern zur Aneignung durch Schulgemeinschaft und Anwohnerschaft auf, denn das
            rekten Zugängen zu Außenräumen. Diese Gebäude sind so konstruiert, dass raumtren-  Grundstück wird für die Quartiersnutzung ebenso geöffnet wie das Erdgeschoss des Ge-
            nende Wände – mit Ausnahme der Treppenhäuser und Sanitärbereiche – weder eine  meinschaftshauses. Das Wissen, das sich alle Beteiligten bei diesem Pilotprojekt erwor-
            statische noch eine brandschutztechnische Funktion haben. Anpassungen an zukünf-  ben haben, wird von der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft unter dem Link
            tige Nutzungen sind somit einfach und ressourcenschonend möglich.  www.schulbauopensource.de frei zugänglich zur Verfügung gestellt.

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