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ÖFFENTLICHE BAUTEN • PUBLIC BUILDINGS THEORIE • THEORY
wurde am GTO viel. Ursprünglich waren die breiten Flure vor den Klassenzimmern mit sogenannten „Bussen“ be-
stückt – frei stehenden, abgerundeten, farbigen Sonderräumen, die als Depot für Lehrmittel und für Teambesprechun-
gen dienten. Im Laufe der Zeit wurden diese jedoch ebenso demontiert wie die individuellen Lernboxen rund um die
Aula im Obergeschoss oder die offenen Klassenzimmer. Der experimentelle Charakter der Schule offenbarte gleich zu
Anfang die Grenzen seiner Alltagstauglichkeit und machte umfangreiche Revisionen notwendig. Dazu zählten vor
allem nicht zu öffnende Fenster einer zunächst voll klimatisierten Schule oder nicht schalldichte, verschiebliche Zwi-
schenwände. Die mobilen Wände sollten kleine Lerngruppen – heute wieder ein Thema – oder offenen, klassenüber-
greifenden Unterricht ermöglichen. Introvertierte, lediglich durch Sheds gleichmäßig ausgeleuchtete Unterrichtsräume
im Obergeschoss sollten dem konzentrierten Lernen nach amerikanischem Vorbild dienen. Einige davon gibt es heute
noch. Die peripheren Räume wurden in der Folge jedoch durch sonnengelbe Glasfronten ergänzt, sodass im Zusam-
menspiel mit den Oberlichtern eine umso stimulierendere, heitere Atmosphäre entstand. Es ist die Vielfalt und unter-
schiedliche Qualität an Räumen, Ebenen, Lichtstimmungen, Blickbeziehungen und die großzügige Offenheit, die den
Ganztagsbetrieb im GTO atmosphärisch so abwechslungsreich macht – anders als in klassischen Flurschulen mit ihren
monotonen Abfolgen immer gleicher Räume. Auf lange Sicht, so erzählt auch ein ehemaliger Lehrer, habe die Schule
sehr gut funktioniert. Eine Besonderheit ist auch das Angebot an Außenräumen: große oder intimere Plätze auf un-
terschiedlichen Ebenen rund um die Schule, eine Sitz-Arena, der Sportplatz, die überdachte Raucherecke, der ge-
schützte Tischtennisbereich, der Hof vor den Werkstätten, die Pausenflächen zwischen dem Freizeitbereich, dem
Sheds belichten das gesamte OG. • Shed roofs illuminate the upper level. (nicht mehr existierenden) Gewächshaus und dem großen Schulteich sowie die ehemalige große Wiese, bevor der
Bau der Realschule kam. So vielfältig wie das schulische Bildungs- und Raumangebot waren die aus unterschiedlichen
Hochschulstandorten kommenden engagierten Lehrer und Lehrerinnen. Mannigfaltige Persönlichkeiten, vom Alterna-
tiven bis zum Bürgerlich-Konservativen, zeigten zu meiner Schulzeit für Heranwachsende ein breites Spektrum an
Möglichkeiten auf. Durch Nähe statt Distanz im Ganztagsbetrieb. Der gemeinsame Spirit von Schule, Schulleben,
Schulklima und Architektur – eine unverwechselbare Identität.
Sanierungen und Erweiterungen ...
Aufgang Aula / Bibliothek • Stairs inner courtyard / library
Dass intensiv genutzte öffentliche Gebäude im Laufe ihres Lebens umgebaut, an neue Anforderungen angepasst und
saniert werden müssen, liegt auf der Hand. Bis zum 20-jährigen Bestehen im Mai 1985 wurden bereits knapp zehn
Millionen D-Mark investiert. Mitte der 1990er-Jahre wurde abermals ein Klassentrakt gebaut, 2009 die ehemalige Holz-
baracke wegen eines Brandes ersetzt. Die behelfsmäßigen Zubauten schafften Raumangebote, architektonisch relevant
sind sie nicht. Dass das Hauptgebäude energetisch, technisch und baulich als Relikt der 1970er-Jahre enormen Sanie-
rungsbedarf hatte, ließ sich nach mehr als vier Jahrzehnten Schulbetrieb nicht mehr von der Hand weisen. Die Frage
„Sanierung oder Neubau?“ wurde in Gutachten sehr intensiv und lange geprüft. 2017 fällte der Schulausschuss des
Neckar-Odenwald-Kreises die Entscheidung für eine aufwendige Sanierung. Gebäudehülle und Haustechnik sollten
komplett erneuert, die Fassaden samt Fenstern ausgetauscht werden, die markanten Sheddächer jedoch erhalten blei-
ben. Ab 2019 war bei laufendem Schulbetrieb eine rund neun Millionen Euro teure, drei Jahre dauernde Generalsa-
nierung anvisiert, ermöglicht durch eine zugesagte Förderung von sieben Millionen Euro aus dem Fördertopf des Lan-
des Baden-Württemberg und eine Restfinanzierung durch den Neckar-Odenwald-Kreis. Letztendlich bedeutete die
Schadstoffbelastung durch PCB (polychlorierte Biphenyle) in den gelb gestrichenen Stahlelementen jedoch das Sanie-
rungs-Aus. Die in gebundener Form nicht relevante Schadstoffbelastung wäre im Moment des Abtragens zum Problem
geworden. Das ganze Gebäude hätte damit als ein Brandabschnitt gegolten, und es wäre nicht möglich gewesen, alle
Schüler für (mindestens) drei Jahre in Containern unterzubringen.
Ende einer Ära und Anfang einer neuen
Mensa: Energiequelle im Schulalltag • Canteen: energy source
Um an die jahrzehntelange Erfolgsgeschichte des GTO anzuknüpfen, wird deshalb in einen Neubau für künftige Schü-
lergenerationen investiert. Das neue Gymnasium gilt als größte Einzelbaumaßnahme in der Geschichte des
Neckar-Odenwald-Kreises und wird finanziell durch Kreis, Land, Bund und die Stadt Osterburken getragen. Die neue
Schule soll den veränderten Anforderungen an einen zeitgemäßen Ganztagsbetrieb nach dem Lernhausprinzip ent-
sprechen – barrierefrei, digital sowie energetisch-technisch auf dem neuesten Stand. (2016 erhielt auch die Realschule
auf demselben Areal einen attraktiven Neubau der Architekten Brodhammer Jana Wohlleber.) Muffler Architekten
aus Tuttlingen konnten 2020 den Wettbewerb um den Neubau des Gymnasiums für sich entscheiden, den wir auf
den folgenden Seiten vorstellen. Am 29. März fand der Spatenstich statt. Die seit 2015 amtierende Schulleiterin Regina
Krudewig-Bartel hatte sich vor sieben Jahren aufgrund des pädagogischen Konzepts explizit für das GTO entschieden.
Dass das jetzige Gebäude nicht erhalten werden kann, hat auch sie anfangs bedauert, doch sie blickt dem Neubau
voller Freude entgegen. Denn dieser bilde die Anforderungen an einen zeitgemäßen, zukunftsfähigen Ganztagsbetrieb
unter allen 16 Wettbewerbsvorschlägen am besten ab. Den offenen Geist und den Gemeinschaftssinn des GTO will
Regina Krudewig-Bartel in jedem Fall „mit hinübernehmen“ und dort zur Entfaltung bringen. Mit Beginn des Schul-
jahres 2024/2025 sollen Schüler und Lehrer das neue Gebäude beziehen können. Danach soll das alte Hauptgebäude
abgerissen werden. Am 7. Mai findet das 35-jährige Klassentreffen meines Abiturjahrgangs statt. Ein letztes Mal wer-
den wir gemeinsam „unser“ Gymnasium, eine einzigartige Schule und Relikt der 1970er Jahre, besuchen. Unter mei-
nen ehemaligen Mitschülern sind Ärzte, Unternehmer, Ingenieure, Juristen, Pharmazeuten, Pädagogen ..., andere
haben sich in nicht-akademischen Berufen verwirklicht. Das Bildungskonzept ist aufgegangen.
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